Literatur aus und über Berlin Jutta Voigt im Interview zu ihrem neuen Buch „Stierblutjahre“

Jutta Voigt erzählt über die wilde und romantische Ost-Boheme – aus ihrer Perspektive und der anderer Künstler.

© Peter Hinz
Jutta Voigts Buch „Stierblutjahre – Die Boheme des Ostens“ ist ein Kaleidoskop aus eigenen Erinnerungen sowie Rückblicken anderer, die dem Grau-in-Grau der untergegangenen DDR einiges entgegenzusetzen hatten: unbändige Lebenslust, Kreativität, Gelächter und ein Talent zum Feiern. Der Blick ins Innere der Künstler- und Intellektuellenwelt  macht uns näher bekannt mit den Großen wie Heiner Müller oder der Grafikerin Ruth Mossner, aber auch vielen heute nicht mehr bekannten Künstlern und Denkern, deren Potraits Voigt liebe- und humorvoll zeichnet. Sie nimmt die Leser mit in die Szeneorte der Ost-Boheme, etwa in die Bar Möwe, wo der Stierblut-Wein in Bächen fließt. Dieses Buch hinterlässt Sehnsucht nach einer untergegangenen, aber hochinteressanten Welt. 

In Ihrem neuen Buch ”Stierblutjahre” beschreiben Sie, wie die Boheme des Ostens gelebt, geliebt, gefeiert und gelitten hat. Welche Botschaft steckt in diesem Rückblick?

Dass es neben dem grauen das andere Leben gab, das bunte, unangepasste, individuelle. Mir geht es in ”Stierblutjahre”, wie schon bei den ersten Büchern der Trilogie über die DDR-Alltagskultur ”Der Geschmack des Ostens” und ”Westbesuch” um die Zwischentöne.  Die Zwischentöne bringen die Wahrheit zum Klingen, nicht die Paukenschläge der Klischees: Alles grau. Alles  gleich. Alles Gänsemarsch. Die Zwischentöne erzählen die Details und die Verspieltheiten des Lebens. Vermutlich gab es im Osten mehr bohemehaftes Leben als anderswo, denn es war die einzige Möglichkeit, Konformität und Langeweile zu entkommen – SOS Boheme! 

Gelegentlich ist ein leiser, liebevoller Spott zu hören, als sei die Boheme  eine großartige Villa Kunterbunt gewesen, die leider nie in der Lage war, gegen die „Bösen“ zu punkten. Ist das so?

Das „Böse” war damals keine Kategorie, und Bohemiens sind selten Dissidenten, die Subversion bestand im Spiel. Und überhaupt: Das Ganze ist sehr persönlich, sehr subjektiv erzählt, „Stierblutjahre” ist zwar ein Sachbuch, aber eines von spezieller Art. Eine Montage aus Fakten und Fiktionen, Dokumenten und Erzählungen aus vierzig Jahren Ostboheme.

Den Aufbau des Sozialismus wollte die Partei dann ja irgendwann lieber ohne die Künstler und Intellektuellen vollziehen. Vielen galt die DDR mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann als gescheitert. Hatten Sie so einen Zeitpunkt?

Es gab keinen Zeitpunkt, der Aufbruch wurde von Beginn an abgebrochen. Die Übereinstimmung von Künstlern und Partei war eine kurze Illusion, die Enttäuschung folgte auf dem Fuße, schon Ende der 50er, aber ganz deutlich Mitte der 60er Jahre. Künstler waren hoch angesehen, sie wurden subventioniert und prämiert. So lange sie brav waren und nicht widersprachen. Die Partei und die Funktionäre waren leicht kränkbar und schnell beleidigt, die Überlegenheit der Künstler machte sie aggressiv. Es gab viel zu lachen.

„Wir waren Träumer, wir glaubten an etwas,“ so wird in Ihrem Buch ein Maler zitiert, dem man untersagt hatte, mit dunklen Farben zu malen, weil sie sich gegen die optimistische Lebensauffassung des Sozialismus richten würden. Der Sozialismus ist vorbei und der Kapitalismus schwächelt. Wovon können wir heute kollektiv träumen – oder wovon träumen Sie?

Wir sind ja alle irgendwo Romantiker, jedenfalls mindestens zehn Prozent von uns, doch leider, Herr Mentz, sind kollektive Träume bis auf Weiteres ausgeträumt. Es sei denn, sie beziehen sich auf ein Schlaraffenland aus Tofuwürsten, laktosefreier Milch, Biobananen, hoch betagten Schweinen und vielen, vielen Ferkelchen. Ich bin froh, wenn ich von nichts träume. Ach, das stimmt so nun auch wieder nicht.

Nach den wilden 90ern schlug das „Eigentumsgen“, wie Sie es in Ihrem Buch nennen, voll durch. Besteht noch Hoffnung für Berlin oder klebt das Preisschild bereits überall?

Es klebt überall, das liegt in der Natur der Sache. Angst ist nur mit Geld zu beruhigen, besser noch mit Eigentum. Da kann es schon vorkommen, dass der Schornsteinfeger Ihnen eines Morgens die Nachricht überbringt, dass das Haus, in dem Sie wohnen, vorige Woche verkauft worden ist. Dass die Schornsteinfeger noch geküsst wurden, weil sie Glück brachten, ist lange her.

„Berlin, was wird aus dir, wenn der Kaffee unter den U-Bahn-Bögen in der Schönhauser Allee vegan wird“, heißt es in ”Stierblutjahre”. Veganer Kaffee, als Menetekel wofür?

Die rhetorische Frage überspitzt eine bestimmte Art von Melancholie, wie sie in dem großartigen Berlin-Film ”Oh Boy” zelebriert wird, der in zum Heulen authentischen Schwarzweiß-Bildern von einer Jugendboheme erzählt. Wenn die Freiheit unendlich ist, kommt die Melancholie. Wenn die Sehnsucht das Tun ersetzt. Oder das Tun die Sehnsucht. Hört sich ernst an, dabei geht es in ”Stierblutjahre” ums Spielen, da war die Boheme des Ostens erfinderisch.

Infos: Buchpremiere mit Jutta Voigt am 31.10., 20 Uhr, im Palais in der Kulturbrauerei. Das Buch erscheint am 16.10. im Aufbau Verlag