Tocotronic veröffentlichen neues Album "Schall und Wahn" Tocotronic zwischen Rockbanddasein, Manifesten, Hardcorpunk und Humor

Tocotronics mittlerweile neuntes Album steht kurz vor seiner Veröffentlichung. Von der Band standen uns Jan Müller und Arne Zank schonmal Rede und Antwort!

Am Freitag, den 22. Januar, erscheint „Schall und Wahn“, Tocotronics mittlerweile neuntes Album und die Antwort auf das manifestartige Vorgängeralbum „Kapitulation“. Überraschenderweise komplettiert das Album auch ihre Berlin-Trilogie. Das kommt deshalb überraschend, weil bis vor kurzem nie von einer Trilogie die Rede war. Im Interview plädieren Jan Müller und Arne Zank, die übrigens auch am 15. April mit den anderen zwei Bandmitgliedern von Tocotronic in der Magdeburger Factory auftreten werden, darüberhinaus dafür, dass man sie nicht zu ernst nehmen sollte. Ja, sogar von Humor ist da die Rede, aber lest das doch bitte selbst.

© Sabine Reitmeier
urbanite:

Hallo Arne und Jan, vielleicht erinnert ihr euch ja noch an eure frühen Tage, an 1995 als ihr sangt: “Der da drüben ist jetzt DJ in Berlin/Überhaupt ziehen jetzt einige dahin”. Nun habt ihr bereits euer drittes Album in dieser Stadt aufgenommen. Wie sehr hat sich Berlin in dieser Zeit verändert?

 

Jan Müller:

Es ist sehr international geworden – das fällt mir auf, wenn man ausgeht oder sich irgendwo in der Öffentlichkeit bewegt. Es ist eine sehr internationale Metropole im Gegensatz zu Hamburg. ’95 war das noch ein bisschen anders.

 

Arne Zank:

Ich fand die Atmosphäre bei unseren ersten Paar Konzerten hier irre. Direkt nach der Maueröffnung herrschte hier eine ganz andere Stimmung, weil es so dermaßen viele Freiräume gab. Und die gibt es ja heute hier noch immer mehr gibt als in Hamburg.

 

urbanite:

Als ihr euer vorletztes Album „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ als erstes Album in Berlin aufgenommen habt, war euch da schon bewusst, dass es eine Triologie zur Stadt werden sollte?

 

Jan:

Nein, dass wurde uns erst bewusst während wir „Schall und Wahn“ gemacht haben. Alle drei wurden zudem von Moses Schneider produziert und seitdem ist Rick dabei, der uns nun natürlich hoffentlich nicht verlassen wird. Sie gehören zusammen und innerhalb dieser drei Platten gibt es eine Steigerung, bei der man sich schon etwas grundlegend Neues überlegen muss, wenn man danach weitergehen möchte – wobei wir darüber, Gott sei Dank, derzeit natürlich noch nicht nachdenken müssen.

 

Arne:

Vielleicht lässt man sich da ein bisschen in die Karten gucken, wie wir so unsere Konzepte entwickeln. Man hat ja eine Vorliebe für Strategien und Konzeptkunst, aber wir hatten natürlich keinen Masterplan für diese Triologie vorliegen gehabt. Das muss man ehrlich sagen, obwohl das natürlich ein wenig entlarvend ist. Schlussendlich ergeben die drei Platten aber ein insichgeschlossenes Bild, was wir mit dem Triologiegedanken deutlich machen wollten. Mal gucken wie es weitergeht.

 

Jan:

Was man verraten kann: Es kommen noch drei Teile. Die sollten eigentlich zuerst entstehen, aber das ging aus verschiedenen Gründen nicht.

 

Arne:

Die nächsten drei Platten sind dann die eigentliche Vorgeschichte der Berlin-Triologie.

 

urbanite:

Das klingt eher nach Star Wars.

 

Jan:

Ach was, das habe ich noch nie gehört. Was ist das?

 

urbanite:

Arne sprach von Entlarvung. Seht ihr euch einer Erwartungshaltung ausgesetzt, die von Tocotronic sogar ein durchkonzipiertes Ende erwartet?

 

Arne:

Ich glaube, das wird immer etwas überbewertet oder zu bierernst genommen. Dieser Überbau, mit dem man gerne spielt, ist für uns eher ein freudiger Umgang und Spaß mit bzw. an solchen Konzepten und Theorien gewesen. Das wird oftmals überbetont und zu schwer genommen, obwohl man selbst damit spielerisch umgeht und es oftmals sehr humorig nimmt.

 

urbanite:

Geht das mit dem Spaß an der Inkonsequenz einher?

 

Jan:

Weil wir uns nach „Kapitulation“ hätten auflösen müssen?

 

urbanite:

Platt gesagt: Ja. Oder aktueller – ihr investiert viel Zeit und Arbeit in eine neues Album, nur um mit der ersten Single „Macht es nicht selbst!“ zu proklamieren.

 

Arne:

Ja, das macht man ganz gerne, mit den Widersprüchen spielen. Beim letzten Album haben wir „Sag Alles Ab“ etwa zu einer Zeit gespielt, in der man überhaupt nichts abgesagt hat und unheimlich viel – auch hinter den Kulissen abseits der Musik dadurch, dass man sich von L’age d’Or (damalige Plattenfirma der Band) getrennt hatte – zu tun hatte. Das sind dialektische Vorgänge bzw. Mechanismen bei uns; sprich, sich aus den eigenen Situationen und Umständen zu befreien und denen ein Lied entgegen zu schreien. Oftmals hat das dann gerade überhaupt nichts mit dem zu tun, was man eigentlich macht. Es vertont vielmehr das Gegenteil.

 

Jan:

Es ist uns aber schon wichtig, deutlich zu machen, dass man nicht alles auf allen Ebenen selbst können oder machen muss. Es war zum Beispiel wieder eine bewusste Entscheidung, erneut mit einem Produzenten zusammenzuarbeiten oder – so paradox das auch klingen mag – die Platte über (den Major) Universal zu veröffentlichen, denn es gewährt uns auch gewisse künstlerische Freiheiten; viel mehr, als wenn wir selber unsere eigene Plattenfirma gründen würden. Hier müssen wir nicht bei jeder Veröffentlichung genau nachrechnen oder uns in solch extremer Weise selbst vermarkten, wie man es sonst tun müsste. Eigentlich ist das ein Statement gegen die heutige Netzwerkkultur.

 

Arne:

Gegen die Zwänge, die aus dem – an sich schönen – Do-It-Yourself-Gedanken entstanden sind, dass eben im – wenn man so will – Kapitalismus mittlerweile eingefordert wird, sich selbst verwirklichen zu müssen. Das ist ein Zwang geworden, der dich unter Umständen einfach völlig überfordert.

 

urbanite:

„Schall und Wahn“ und das vorangegangene „Kapitulation“ ähneln sich sehr im strukturellen Aufbau. Es gibt jeweils zwölf Songs, die hier jeweils als Kapitel fungieren. Sich in ihrer Komposition und ihrem Gestus ähnelnde Songs wie „Stürmt das Schloss“ und „Sag Alles Ab“ bzw. „Gift“ und „Explosion“ sind an die gleichen Positionen, nämlich auf die siebte bzw. zwölfte Spur, gesetzt. Inwiefern wird sich hier bewusst auf den Vorgänger bezogen?

 

Jan:

Ich will nicht widersprechen, dass es eine ähnliche Dramaturgie gibt. Aber man möchte sich natürlich – obwohl man das Prinzip der Wiederholung mag – selbst nicht wiederholen, die Themen sind auf beiden Platten schon andere. Es ist größtenteils auch Zufall, dass sich „Sag Alles Ab“ und „Stürmt das Schloss“ auf ähnlicher Position befinden, weil es so einfach am besten funktioniert. Dadurch entstehen solche Übereinstimmungen.

 

urbanite:

Habt ihr also final eure perfekte Ästhetik gefunden?

 

Jan:

Nein, auf keinen Fall! Es gibt vielleicht ein paar Ähnlichkeiten, aber es wäre schrecklich, wenn man jetzt diese Routine hätte und wüsste: So wird es gemacht!

 

Arne:

Wie eine Albumschablone etwa. Aber so ein bisschen denkt man das schon immer mit. Man denkt an sein Anfangs- und Endstück und erlebt die Freude am Format Album und wie man selbiges füllt.

 

Jan:

Für uns ist das Albumformat nach wie vor sehr wichtig auch wenn es immer weniger stattfindet. Ich glaube, wir funktionieren sehr so als Band, weil Dirk die Stücke auch mit diesem Drang schreibt und man ebenso mit dem Albumformat aufgewachsen ist.

 

Arne:

Deshalb denkt man beim Schreiben, Proben und Arrangieren schon immer mit, wo ein Stück in dieser Albumerzählung vorkommen könnte.

 

urbanite:

In letzter Zeit haben sich viele Bands – darunter etwa auch Radiohead – bereits vom Album als Format verabschiedet. Habt ihr keine Angst, irgendwann damit alleine dazustehen?

 

Jan:

Das ist ja auch typisch für eine Band, die meint, das Musikbusiness immer wieder neu erfinden zu müssen. Gott sei Dank, befinden wir uns nicht unter diesem Druck und es gibt noch genug Bereiche, in denen es das noch weiterhin geben kann. Wir sehen uns da in keiner Sackgasse, sondern versuchen die Sache einfach so lange zu machen, wie sie Spaß macht. Das ist für uns noch immer ein wichtiger Motor.

 

urbanite:

In eurem Newsletter wurde im Sommer Michael Ilbert mit den Worten: „I´m ready to do another masterpiece.“, zitiert, bevor er begann das Album zu mischen. Nun findet sich auf diesem der Song „Keine Meisterwerke Mehr“. Wie würdet ihr reagieren, wenn nun jemand „Schall und Wahn“ als eben solches bezeichnen würde; gerade vor dem Hintergrund bzw. der Bürde der bisweilen euphorischen öffentlichen Reaktionen auf eure bisherige Alben?

 

Arne:

Diese gewisse Bürde muss man ja immer tragen, wenn man irgendetwas in die Öffentlichkeit trägt. Wenn man den „dümmlichen“ Drang hat, sich auf die Bühne zu stellen, erzeugt man ja immer den Druck des Weitermachens und die Angst vor dem weißen Blatt, das man füllen muss. So etwas läuft aber einfach mit. „Keine Meisterwerke Mehr“ ist ein Stück eben darüber; darüber, was es für Strategien es geben kann, um so einen Werkcharakter zu zerstören oder sich ihm zu verweigern.

 

Jan:

Man darf das auch nicht überbewerten. Oft hat man das Gefühl, dass, bloß weil es eine Gruppe wie uns so lange gibt ,die Leute mit so einem heiligen Ernst an die ganze Sache gehen. Das verblüfft uns manchmal doch ein bisschen, weil wir denken, dass seit jeher auch immer viel Humor dabeigewesen ist. Es ist eben die neunte Platte von einer Rockband. Da gibt es die verschiedesten Ansätze, wie man das genießen und konsumieren kann.

 

Arne:

Bei diesem dicken Brocken, der „Kapitulation“ nun mal war, und dem Spaß, den wir am Konzept des Manifests gehabt haben, denkt man sich rückblickend manchmal: Ui, vielleicht hat man da manchem auch etwas vor den Kopf gestoßen mit der gewalttätigen Schwere des Ganzen. Wobei man dabei eben auch viel gelacht hat. Letztendlich bleibt das Bedürfnis sich selbst korrigieren zu müssen und deshalb haben wir bei dieser Platte vor allem auch die Musik mit etwa längeren Instrumentalpassagen oder „Keine Meisterwerke Mehr“ für sich selbst sprechen lassen. Das sind alles Dinge wie man auf sich selbst reagiert.

 

urbanite:

Auffallend beim Hören ist diesmal vor allem die Lust am ausgiebigen Intro.

 

Arne:

Ja, am Ausfasernden. Beim Livespielen haben wir gemerkt, dass es auch wichtig ist, dass zwischen dem Gesang, der ja auch gerne mit reichlich Pathos und Drastik spricht, auch Luft dazwischen ist. Esoterisch gesagt: Die Stille gehört zum Ton dazu. Dass man das mehr betont, war uns ein großes Bedürfnis.

 

urbanite:

Oder man fordert in seinen Texten zum „Oszillieren zwischen bumms und bi“ im Song Bitte „Oszillieren Sie“ auf.

 

Arne:

Das ist die selbe Chose, ja.

 

urbanite:

Wobei dieser Song der ungewöhnlichste auf dem Album ist.

 

Arne:

Der ist schon sehr speziell – ein schöner Spielplatz, der sich im Studio auch noch einmal entwickelt hat.

 

urbanite:

Wie sah diese Entwicklung aus?

 

Arne:

Ganz normal. Dirk schreibt die Songs und schickt uns dann meist als allererstes die Texte, um die besprechen zu können, und dann nimmt er die Lieder mit der Akustikgitarre. Anschließend gehen wir in den Proberaum. In diesem Fall war das Ricks kleines Studio. Diesmal war neu, dass wir alles direkt aufgenommen haben und man sich so noch mehr um die Arrangements kümmern konnte. Vorher hatten wir immer in Proberäumen gespielt, in denen man einfach nichts gehört hat. Wenn man verzerrt gespielt hat, hat man den anderen kaum wahrgenommen.

 

Jan:

Oder man wurde von den benachbarten Metalbands übertönt.

 

Arne:

Diesmal war es ziemlich neu, dass man untereinander sehr intensiv um jedes Instrument verhandelt und das besprochen hat. Manchmal klappen Lieder dann eben schneller und manchmal merkt man, man muss mehr Umwege nehmen. Bei „Bitte Oszillieren Sie“ war das ganz interessant, weil ich subjektiv etwa mir das gar nicht vorstellen konnte und dann sehr überrascht darüber war, was daraus geworden ist.

 

urbanite:

Verschickt die Dirk die Texte dann eigentlich per E-Mail?

 

Jan:

Mittlerweile ja – er ist von Fax auf E-Mail umgestiegen.

 

urbanite:

Was ging euch durch den Kopf, als ihr das erste mal den E-Mail-Text von „Stürmt das Schloss“ (im Refrain Schlachtruf-artig verkürzt zu SDS!) gelesen habt?

 

Arne:

Große Freude, denn ich fand den sehr witzig. Auch da war es wieder überraschend, was am Ende dabei herauskam. Es gab schon immer diese magischen Momente, in denen man merkt, dass das ein Lied ist, das man gerade zusammen spielt.

 

Jan:

Das Lied entsprach unserem langjährigen Wunsch, ein Stück zu machen, das per Definition Hardcore-Punk ist, aber trotzdem darüber hinausgeht und etwa mit den Backing Vocals noch etwas Eigenes hinzufügt.

„Schall und Wahn“ erscheint am 22. Januar bei Universal. Am 15. April spielen Tocotronic dann live in der Factory.

 

Weiterführende Infos gibt’s hier:

www.tocotronic.de