Nachgelesen: „Der Pianist ohne Gedächtnis“ von Henner Kotte Buchrezension: „Der Pianist ohne Gedächtnis“

Der Krimiautor Henner Kotte hat sich mit einem neuen Roman zurückgemeldet, der wieder vor der Kulisse Leipzigs spielt. Wir haben ihn gelesen.

Der Krimiautor Henner Kotte meldet sich mit einem neuen Roman zurück – in ihm trifft der Leser die Leipziger Mordermittler um Lars Kohlund, Agnes Schabowski und Grischa Merghentin wieder, die 2005 in „Abriss Leipzig“ erstmals auf Täterjagd gingen. „Der Pianist ohne Gedächtnis“ heisst nun das inzwischen vierte Werk der Reihe. Wir haben es für euch gelesen.

Inhalt

© Cover
Ein neuer Fall für die zweite Leipziger Mordkommission um Hauptkommissar Lars Kohlund: Im Brachland der Tagebaulandschaft südlich von Leipzig wird eine Leiche in Frauenkleidern gefunden. Doch der scheinbare Prostituiertenmord entpuppt sich rasch als Irrtum, denn im Dreck liegt tatsächlich ein seit Wochen vermisster Schüler. Zur gleichen Zeit untersuchen die Kollegen der ersten Mordkommission das rätselhafte Verschwinden einer alten, demenzkranken Dame. Was ist mit ihr geschehen? Die Ermittler, die sich ohnehin mit internen Rangkämpfen und Eifersüchteleien herumärgern, stürzen ins zwischenmenschliche Chaos und decken wahre Tragödien auf. Nichts ist am Ende wirklich gut.

Figuren

Auf den ersten Blick scheint die Konstellation womöglich etwas verwirrend, entfilzt sich dann aber doch recht schnell. Zu Beginn lernen wir den frisch ernannten und machtversessenen Kriminaldirektor Thorst Schmitt kennen, dazu kommen Agnes Schabowski, die Leiterin der Mord eins, und Lars Kohlund, Chef der Mord zwei. Außerdem begegnen uns der homosexuelle Grischa Merghentin im Rollstuhl, ständig im Kampf um die Anerkennung seiner Kollegen, und Bastian Michalk, der zum Leidwesen von Agnes Schabowski immer wieder vorprescht, um die Karriereleiter zu erklimmen. Wir treffen einen schmierigen Stadtdezernenten, eine überforderte Familie, einen aalglatten Rechtsanwalt und manche mehr.

Themen

© Dieter Grundmann/Westend-PR
Aufbruch und Stillstand, Glanz und Tristesse, Gewinner und Abgehängte – schon in den anderen Romanen der Lars-Kohlund-Reihe sind es Kontraste, auf die der Autor großen Wert legt. Auch an diesem Grundmotiv hat sich wenig geändert. In „Der Pianist ohne Gedächtnis“ duellieren sich die Gegensätze vor allem innerhalb der Kriminalpolizisten mit ihren ganz verschiedenen Charakteren. Burnout trifft auf Karriereeifer, Kollegialität auf Speichelleckerei, Ehrlichkeit auf Anpassung. Freilich: Jeder Krimileser kennt die Gefahr, dass die eigentlichen Fälle leicht ins Hintertreffen geraten, wenn der Autor versucht ist, allzu sehr mit dem Privatleben seiner Ermittler zu spielen. Davon bleibt dieser Roman nicht frei. Leidenschaftliche Affären, die Wiederbegegnung mit einer Liebe vergangener Tage oder eine seltsame Botschaft von Lars Kohlunds Ehefrau sind ebenfalls Passagen, in die der Leser mit einbezogen wird. Dazu lernt man manches über einen Hund namens Mandy und skurrile Tierschutzverordnungen. Das Soziale, Zwischenmenschliche spielt im Roman eine gewaltige Rolle, doch auch Anspielungen hat Henner Kotte mit eingebaut – auf reale Figuren aus Rathaus und Landtag, Skandale wie den „Sachsensumpf“, einen aus Bayern stammenden Polizeipräsidenten oder die Lokalpolitik. Der Zeitgeist, geprägt von Krisen, Unsicherheit und Desorientierung, schimmert durch – subtil, aber doch klar. Nicht zuletzt kriegt auch die „bessere Gesellschaft“ ihr Fett weg, die sich den Erhalt ihrer lupenreinen Fassade mit Geld und teuren Anwälten erkauft.

Stil

Wer die früheren Bücher Henner Kottes bereits kennt, wird auch hier den ganz eigenen Stil des Autors wiederfinden: Direkt, unverblümt und schnörkellos, zuweilen sogar schroff und kantig, zieht die Sprache den Leser in ihren Bann und ermöglicht es, der Handlung zu folgen. Schnelligkeit in der Sache ohne ermüdende Endlosbeschreibungen lautet das Rezept. Für Manche etwas gewöhnungsbedürftig, doch gehen Wortwahl und Stil nicht auf Kosten der Verständlichkeit.

Ende

Natürlich sollte man nicht allzu viel über das Ende des Buches schreiben, doch so viel sei verraten: Auch wenn es eine Art von Auflösung gibt, wird jeder enttäuscht, der am Schluss die ultimative Antwort auf alle Fragen erwartet. Genau das könnte man Kottes Roman aber auch als Stärke auslegen: Er zeigt das Leben, wie es spielt, ohne arg konstruierte Zusammenhänge, die man im Krimi-Genre so oft findet, ohne überzeichnete Helden, und mit Antworten, die trivialer und unbefriedigender ausfallen können, als man es sich vielleicht erhoffte.

Fazit

Ein eigenwilliges, doch keineswegs schlechtes Buch im ganz eigenen Stil und mit viel Lokalkolorit gefärbt. Wie sehr die eigentlichen Fälle durch das chaotische Privatleben der Fahnder und interne Zerrereien bei der Leipziger Kripo untergehen, könnte manch erwartungsfrohen Krimifreund irritieren. „Der Pianist ohne Gedächtnis“ ist in dem Sinne kein reiner Unterhaltungskrimi, sondern zugleich ein unverhohlener Blick auf hiesige Zustände, auf eine Polizei, die allmählich zwischen Kriminalität, Spardiktat, Personalnot und Politik aufgerieben wird. Auf überforderte Beamte und skrupellose Karrieristen. Ein Pianist ohne Gedächtnis tritt im Roman übrigens erst spät in Erscheinung und auch das nur in Gedanken. Der Titel spielt womöglich auf einen Mann an, der vor Jahren an der englischen Küste auftauchte, stumm, ohne Ausweis, aber ein brillanter Pianist – der sich dann ans Betrüger aus Deutschland herausstellte. Steht der Titel in dem Sinne auch für Schein und Sein? Für romantische Verklärung und banale Wahrheit? Vielleicht – und allemal für ein Buch, dass uns eine Leseempfehlung wert ist.

Infos zum Buch: www.mitteldeutscher-verlag.de – Der Pianist ohne Gedächtnis – Henner Kotte – Krimi – Mitteldeutscher Verlag – ISBN 978-3-95462-335-8 – 9,95€