Wie fühlen sich eigentlich Borderline-Kranke? Das Theaterstück im Theater der Jungen Welt gibt einen dramaturgischen Einblick „Dolores“ im TdJW – Eine Achterbahnfahrt der Gefühle

Das Gefühlsleben von Borderline-Betroffenen ist neun Mal extremer als das eines gesunden Menschen. Das Stück „Dolores“ im TdJW bringt das auf den Punkt.

„Steht Kopf“ heißt das derzeitige Spielzeitmotto im Theater der Jungen Welt. Im Rahmen dessen wurde auch „Dolores (Schmerz)“, ein Tanzprojekt über die Persönlichkeitsstörung Borderline, inszeniert. Ein interessanter Theaterbesuch stand uns also bevor. 

© Tom Schulze

Hong Nguyen Thai kam 1981 als Bootsflüchtling nach Berlin und wirkte bei einer Reihe Theaterproduktionen aktiv mit. Mit „Dolores (Schmerz)“ feierte der einstige Tänzer nun seine Premiere als Regisseur und Choreograf. Als Unterstützung diente die Musikerin Lih Qun, die für ihr Zusammenspiel von zeitgenössischer Klassik und elektronischer Musik bekannt ist. Auf ihren Kompositionen und der musikalischen „Winterreise“ Franz Schuberts basiert „Dolores (Schmerz)“.

Achterbahnfahrt der Gefühle

© Tom Schulze
Die musikalische Umsetzung und Neuerfindung der „Winterreise“ verleiht dem ganzen Theaterstück eine besondere Note, unterstreicht die getanzten Emotionen und die ständige Achterbahnfahrt der Gefühle eines Borderline-Betroffenen. Neben Lih Qun, die live am Cello und Klavier musiziert, stehen die beiden Darsteller Linda Ghandour und Lukas Steltner im Vordergrund. Der professionelle Tänzer erklärt in der Nachbesprechung des Stückes: „Ausgangspunkt für uns waren die emotionalen Zustände. Unsere Aufgabe im Stück ist es, sie physisch darzustellen.“ Und das gelingt. In „Dolores (Schmerz)“ wird weniger eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Viel mehr geht es um das Gefühlsleben von Borderline-Betroffenen. Was den Tanzstil angeht, variiert dieser so stark wie die dargestellten Emotionen und geht von Breakdance-Elementen über Ausdruckstanz bis hin zu Praxen des Kampfsports. Die Schauspielerin Linda Ghandour versetzt dem Stück durch ihre spielerische Leistung außerdem ein gewisse Dramatik. 

Mitreißend und chaotisch

© Tom Schulze
Das alles klingt sehr mitreißend und chaotisch. Auch für den Zuschauer ist es teilweise sehr anstrengend, dem Stück zu folgen. Viele zusätzliche Komponenten, wie beispielsweise eine Leinwand, auf die live projiziert wird, oder ein sich ständig veränderndes Bühnenbild, tragen ebenfalls zu der Unruhe des Stückes bei. Durch dieses Chaos schaffen es die Darsteller, dem Zuschauer einen Einblick in das Gefühlsleben eines Borderline-Betroffenen zu geben. Ghandour äußert sich im Nachgespräch folgendermaßen dazu: „Wir haben uns mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt, uns informiert und mit Betroffenen gesprochen. Mir ist ganz besonders im Kopf geblieben, dass Borderline-Betroffene jedes Gefühl neun mal stärker fühlen als jemand, der nicht an dieser Persönlichkeitsstörung leidet.“ Die Übertreibung, das Tempo und die Anstrengung des Stückes lassen uns also nur erahnen, wie schwierig der reale Alltag von Betroffenen wirklich ist. 

In „Dolores (Schmerz)“ wird ein Thema angesprochen, für das heutzutage zwar wissenschaftliche Grundlagen und spezialisierte Behandlungskonzepte vorhanden sind, das gleichzeitig aber in der Gesellschaft immer noch häufig auf Unverständnis trifft. Das Tanzprojekt soll das Offenheit und Akzeptanz für Andersartigkeit anregen. Gleichzeitig wird aus einer Krankheit, die nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige verzweifeln lässt, etwas Ästhetisches und sehr Schönes auf der Bühne dargestellt.

Weitere Stücke im Rahmen der Spielzeit „Steht Kopf!“: 

„Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“ von Tatjana Rese und Matthias Eckoldt: Hirnforschung trifft Theater | weitere Termine 23. & 24.5.

„Regarding the Bird“ von Nitzan Cohen: Ein Leben unter Nicht-Asperger-Syndrom-Menschen | Premiere am 28.4., weitere Termine 2., 8., 9., 24. & 25.5.; 27. und 28.6.