„Man sollte nicht jeden Tag zu tief in sich hineinblicken“ Martin Kohlstedt: Der Versuch, ums Musikbusiness drumherum zu schippern

Martin Kohlstedt muss man hören, muss man sehen. Der Musiker empfindet seine Konzerte nicht als Show, sondern als Dialog mit dem Publikum.

© Presse
Martin Kohlstedt muss man hören, muss man sehen. Der Musiker empfindet seine Konzerte nicht als Show, sondern als Dialog mit dem Publikum. So entwickeln sich seine Stücke bei jedem Auftritt weiter und sind jedes Mal unterschiedlich. Nun kommt der Ausnahmekünstler wieder nach Leipzig. Im Interview verrät er vorab u.a., was ihn zum „Mecker-Opa“ werden lässt, was er an sich gruselig findet und wonach er süchtig ist.  

Erzähl bitte etwas vom Menschen Martin Kohlstedt.
(lacht) Da kann man natürlich weit ausholen … Ich kann sagen, dass das Klavierspielen gar nicht mal so die Priorität bei mir hat und den Tagesablauf bestimmt, wie vielleicht bei anderen. Ich versuche das immer, in einen anderen Rhythmus zu integrieren. Ich glaube, ich spiele nicht mehr als eine Stunde Klavier am Tag. Alles andere würde mich zermartern. Man sollte nicht jeden Tag zu tief in sich hineinblicken (lacht). Es ist eher wie eine Firma, die man aufgezogen hat – mit lieben Menschen im Team, die die gleiche Attitüde pflegen, etwas auf die Beine zu stellen – es gibt viele Entscheidungen zu treffen.
Ich fühle mich den ganzen Tag in verschiedene Rollen hinein – mal Chef, mal Komponist für Filmmusik, mal Organisator, mal Handlanger, mal Reiseleiter, mal Pausenclown, alles was dazu gehört … Wir versuchen viel selbst zu machen und zu bestimmen. Zusammen mit einer von Mutti vererbten Kontrollsucht leiten und gestalten wir nun unser eigenes Label EDITION Kohlstedt mit einem fünfköpfigen Kern aus Machern rund um meine Wenigkeit. Wir wachsen langsam aber konsistent (lacht). 
Wir versuchen, schon um das Musikbusiness drumherum zu schippern. Natürlich ist man als „Martin Kohlstedt“ trotzdem mittendrin. Wir treffen komplett andere Entscheidungen, als würden wir dem exponentiellen Labelzyklen angehören, die sich da draußen drehen. So ist man immer noch eigener Herr, da man wirklich noch alles selbst bestimmen und abgleichen kann, was einen wirklich ausmacht.
Ich mache keine typischen Riesentouren mit 40 Auftritten am Stück – das leert die Inspiration komplett aus, eher dauerhaft und gestreckt über die Zeit und immer wieder. Bei mir ist es immer wie ein Gespräch aufgebaut, was da bei einem Konzert passiert. Da wäre es wohl fatal, jeden Abend weiterzubohren. Es muss auch Platz für das geben, was vom Publikum zurückkommt. Da ist einfach viel Liebe vor Ort. Das muss man auch erst mal verdauen.
Ich versuche einfach viele Personen zu sein, neben den ganzen redaktionellen Begriffen wie Komponist der Neoklassik, experimenteller Musiker oder was auch immer … Ich versuche das wirklich an den zweiten Rang zu stellen und die persönliche Entwicklung dafür an Rang eins. 

Deine Stücke sind nicht abgeschlossen, sondern entwickeln sich mit jedem Konzert weiter. Stehst du unter Druck, dass es spontan dann auch funktioniert?
So was kann tatsächlich auch schwierig werden, wenn irgendwas nicht stimmt. Der Raum und die Menschen vor Ort bilden einen grundsätzlichen Nährboden für das, was da so passieren soll. Letztendlich ist das wie ein Gespräch. Es kommt aber auch vor, dass man nicht bereit ist, für ein richtig offenes Gespräch, weil z.B. der Ort das nicht hergibt. Andererseits ist es aber auch eine Tagesform-Geschichte. Manchmal kann man komplett die Hose runterlassen und ist extrem offen. Und manchmal ist es auch nicht möglich, ordentliche Worte zu formulieren. Ich hebe nach einem Stück auch den Kopf, sehe das Publikum und komme mir direkt beobachtet vor, wenn ich aus meiner Blase kurz raus muss. Ich schaue dann zum Publikum und merke, dass ich doch nicht alleine war mit meiner Sache. Es gibt ganz viele kleine Reaktionen des Publikums. In jedem Land ist das auch immer unterschiedlich.

Unterscheiden sich auch deutsche Städte bei den Reaktionen des Publikums.
Ja, völlig. Das ist sogar eine geheime Studie zwischen mir und meiner Freundin auf Reisen. Das ist unser Hauptgesprächsthema im Stau (lacht), wie extrem das tatsächlich ist. Und da reden wir von vielleicht 150km Entfernung zwischen den Städten. Es ist für mich ein ganz attraktives Thema, nicht nur die Hauptstädte zu bespielen, weil die ja eh aus einem gemischten Publikum bestehen.
Wir philosophieren da manchmal bis zum Mauerfall zurück, an was das liegen könnte. Die Auftritte funktionieren immer, aber auch immer anders. Manchmal habe ich das Gefühl, ich spiele eine Show, obwohl das nie der Sinn war, eine Show daraus zu machen. Und manchmal ist es so intim, dass es mir manchmal selbst schon zu Nahe ging, weil einem der Spiegel so krass vorgehalten wird, dass ich erst mal kurz durchatmen muss. Es ist verrückt. Völlig verrückt.  

Wer dich spielen sieht, merkt, wie du alles um dich herum vergisst. Du verlierst im Klavierspiel schon mal jede Fassung. Was geht in dir vor, wenn du in ein Stück so eintauchst?

© J. Konrad Schmidt
Ich empfinde die Konzerte eher als Erholung. Ich freue mich merkwürdigerweise immer darauf. Da ist keine Nervosität im Sinne von „Oh Gott, hoffentlich klappen jetzt meine Stücke“. Wenn überhaupt denke ich daran, wie viel man offenbart, was man alles zulässt. Wenn man viel Einsatz zeigt und sämtliche Gesichtsmuskeln ihr Eigenleben führen – dann ist das manchmal schon gruselig zu sehen (lacht).
Das ist für mich wie so ein Komplettzeitraffer. Das ist eine ganz schöne Sache, weil es mich sehr beruhigt und defragmentiert. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich mal vier Wochen kein Konzert spiele, dass ich dann so ein Mecker-Opa werde. Einfach aus dem Grund, dass es sehr wichtig ist, sich gewisse Themenkomplexe immer wieder auf dem Schirm zu holen. Das ist meine Art der Verarbeitung. Manche klatschen Farbe auf die Leinwand, andere kriegen das beim Joggen hin – einfach so eine Art Flussbewegung im Kopf zu erzeugen. Bei mir braucht es diese eine Stunde, in der ich es rauslasse.  

Was geht da mir in mir vor? Etwa 80 % der Stücke sind vor meinem 20. Lebensjahr entstanden. Und so lange reifen sie auch. Gerade in dieser Zeit entstehen ja die ersten Sehnsüchte und es werden die ersten Minuspole ins Leben gebracht. In der Zeit fühlen sich die ersten negativen Gefühle genauso hart an wie später auch. Das vergisst man oft so ein bisschen.
Letztendlich versuche ich nur die Dinge zu verknüpfen, zurückzureisen und bin dann plötzlich wieder im Raum, wo die Mutti hinten am Bügeleisen sitzt und den Fernseher laut aufdreht und ich spiele dazu so ein bisschen Klavier. Das sind Szenen, in die man sich gerne zurückbegibt. Es stand einfach nicht so viel in Frage. Ich versuche, mich so ein bisschen selbst zu analysieren. Und andere Menschen helfen dabei sehr. Scheinbar kann durch diese Instrumentalmusik im Gegenüber ähnliche Sachen freigesetzt werden. Es werden so kleine Schalter umgelegt – man wird gespiegelt. Es kamen schon viele Menschen auf mich zu, die nach dem Konzert zu mir sagten, sie seien bei sich selbst gelandet und hätten diese eine Stunde komplett als Katalysator benutzt und sehen nun die Dinge etwas klarer. Ich strukturiere auch nur meinen Kopf. Es scheint irgendwie übertragbar zu ein. 

Du reagierst auf Publikum und Raum. Was ist, wenn du mal keine Vibes beim Publikum verspürst? 
Das ist eine Sache, die mir immer mal wieder ein bisschen Angst bereitet, aber es ist bisher tatsächlich noch nie vorgekommen. Entweder die Veranstalter selbst oder unsere Vorahnung hat das dann schon so gefühlt, dass das vielleicht nicht klappen könnte. Es hat dann gar nicht erst stattgefunden.
Zum Beispiel die Astra Stube Hamburg ist so ein ganz vertrunkener kleiner Schuppen an irgendeiner Kreuzungsecke. Und auch in einem solchen Raum kann diese besondere Atmosphäre geschaffen werden. Das Publikum schaute nach draußen, weil irgendwelche Demos stattfanden und sich die Polizei und Demonstranten die Köpfe mit Klobürsten eingehauen haben. Man guckt dabei zu, spielt Musik und zoomt dabei so weit heraus, dass man der Menschheit nicht mehr diesen großen Wert einräumen muss. Und das in einem Kontext, so dass ein kompletter Mikrokosmos entsteht. Danach bin ich tatsächlich ein bisschen süchtig geworden, an den verrücktesten Orten zu spielen (lacht) und genau diese besondere Stimmung zu provozieren. 

Warum sitzt du mit dem Rücken zum Publikum?
Ja, das ist mir wichtig. In dem Moment, in dem man mit dem Gesicht zu einem Publikum gerichtet ist, vermittelt das so eine gewisse Einseitigkeit und vor allem die Erwartungshaltung, dass mir der Mensch dort vorn auf der Bühne etwas bieten sollte, weil ich ja Eintritt dafür bezahlt habe. Das sehe ich gar nicht so (lacht). Und das meine ich in keinster Weise arrogant. Es soll einfach klar werden, dass das Publikum an dieser Sache teilnehmen kann – und das aktiv, ganz ohne Wertungsbarrieren. Es gibt sozusagen die Aufgabe, selbst etwas mitzubringen und es nicht einfach über sich ergehen zu lassen und zu erwarten. Und dann passiert etwas. Das finde ich interessant. Es hat sogar etwas Meditatives. Es ist einfach nicht als Show gedacht. Vielleicht vermeide ich auch einfach diese direkte Konfrontation – das ist für mich ein wenig befremdlich. Das Konzert ist für mich einfach als gemeinsames Projekt gedacht. 

Am 7. Oktober 2016 kommt Martin Kohlstedt live ins Täubchenthal. 

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