Elektronische Chaosmusik | Raps auf Riffs | Tänzelnder Electro-Pop | Vielschichtiger Pathos-Pop 4 x neue Musik aus Berlin: Lotic, Kex Kuhl, Kiddo Kat, Thomas Azier

Was hat der Juli musikalisch im Plattenkoffer? Wie jeden Monat haben wir uns umgehört und die spannendsten Neuveröffentlichungen aus Berlin für euch ausgesucht…

Was hat der Juli musikalisch im Plattenkoffer? Wie jeden Monat haben wir uns umgehört und die spannendsten Neuveröffentlichungen aus Berlin für euch ausgesucht…

© Tri Angle

Lotic – Power

Welchen Feindseligkeiten begegnet man als schwarze Transfrau in einer weißen, heterosexuell geprägten Welt? Dieser Frage geht das Debüt der aus Houston stammenden Musikerin Lotic mit elektronischer Chaosmusik nach. Seit 2011 erkundet die Produzentin im Spiel mit hypermodernen Sounds und Effekten neue Räume der Kontraste und wird so in einem Atemzug mit kongenialen Zeitgenossen wie Arca oder SOPHIE genannt. Kantige Synth-Patches, zerstückelte Club-Beats und bröselige Bässe baut Lotic als Fehler im System der unwiderstehlichen Banger ein. Vertont werden damit die Machtstrukturen und Instabilitäten des 21. Jahrhunderts. Bis schließlich das emotionale „Solace“ die Versöhnung einläutet. Statt zwischen nervösen Beats zu flattern, schwebt ihre Stimme hier anmutig über sanften Synthesizer. „It’s gonna be okay“, wiedeholt sie dabei immer wieder – fast so, als würde sie uns alle von einem Trauma heilen wollen.

© Warner

Kex Kuhl – Stokkholm

Straighte Punchlines aus Berlin! Taha Cacmak alias Kex Kuhl – bekennender Vollbartträger und Augsburger-Akzent-Liebhaber – legt mit „Stokkholm“ sein zweites Rap-Rock-Album vor. Und nein, das dreht sich weniger um die schwedische Hauptstadt, dafür aber umso mehr um Menschen, gescheiterte Beziehungen und andere Katastrophen. Für den titelgebenden Track über eine krankhaft obsessive Liebe soll ihn das von der Psychologie betitelte „Stokkholm Syndrom“ inspiriert haben. Neben dem Rappen auf Riffs spittet er dabei über düstere The Cure-Bassläufe („Halb Acht“), Jazz-Drumming („Müde“) und Akustik-Pickings („Menschen II“). Besonders beachtlich: Das komplette Album kommt ohne Beats und Samples aus. Jeder Song wurde mit einer Akustikgitarre komponiert und später organisch aufgenommen. Macht am Ende melodischen HipHop mit Akkorden statt Beats.

© Niculai Constantinescu

Kiddo Kat – Piece Of Cake

Eine junge Musikerin stimmt in der Frankfurter S-Bahn „Kiss“ von Prince an – und alle flippen aus. Erst die Fahrgäste, dann die Internet-Community. Auf YouTube wird das Cover zum Hit. Und heute? Bringt sie als Kiddo Cat ihr erstes Album raus. „Piece of Cake“ heißt das Debüt der gebürtigen Berlinerin, das zwei Jahre nach dem plötzlichen Erfolg erscheint. Zwei Jahre, in denen sie den plötzlichen Hype verdauen und eigene Songs schreiben musste. Herausgekommen ist eine Sunshine-Pop-Platte, die sich textlich selbstverständlich um die weniger sonnigen Erfahrungen seit ihrem Karriereaufstieg dreht. So handelt „Growing Under Pressure“ von der Weiterentwicklung unter Erfolgsdruck, während sie auf „Just Kidding“ den Instagram-Perfektionismus-Wahn auf die Schippe nimmt – immerzu untermalt von angenehm tänzelnden Electro- und Funk-Beats. 

© Hylas Records
Thomas Azier – Stray

Erst massentauglicher Electro, dann minimalistischere Gesten auf dem Klavier: Mit seinen Alben „Hylas“ (2014) und „Rouge“ (2017) reizte der zwischen Paris und Berlin pendelnde Niederländer Thomas Azier die Extreme noch getrennt voneinander aus. Das Ergebnis: Pathos-Pop, dem es an Spitzen fehlte. Schön ausgelotet hat er beide Arbeitsweisen nun für die EP „S t r a y“ – und das Alt-Plus-Alt-Macht-Neu-Prinzip zahlt sich hier aus. Opener „Echoes“ beginnt mit einer einfachen Gitarrenbegleitung und bäumt sich überraschend zu einer beatlastigen, dramatischen Mid-Tempo-Nummer auf – inklusive durch das Effektgerät geschredderter Riffs. Auf „Color! Color!“ hört man schließlich das Piano wieder, das allmählich von Streichern und elektronischen Windungen ergänzt wird. „Endlich! Endlich!“, möchte man da sagen – endlich vielschichtige Songs auf dem Mittelweg von üppig und lo-fi!