Leben auf Autopilot Filmrezension: LOMO – THE LANGUAGE OF MANY OTHERS

LOMO – THE LANGUAGE OF MANY OTHERS ist das sozialkritische Portrait einer Generation und ein Film, der den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnet.

Der erste Korb oder das Ende einer großen Liebe ist schmerzhaft. Das sind Momente, in denen wir nicht nur den Sinn des Lebens hinterfragen, sondern auch der Welt den Rücken zukehren möchten. Verletzte Gefühle und Liebeskummer sind Streiche, die uns das Leben spielt und aus deren Impuls heraus wir hasserfüllte Nachrichten an Verflossene schreiben. Früher ließ sich eine solche SMS am nächsten Morgen reumütig löschen. Nüchtern wurde uns das Ausmaß der Katastrophe bewusst und ließ uns direkt zurück unter die Bettdecke kriechen. Die digitale Revolution verlagerte die Nutzung des Handys und den Stellenwert des Internets. Sie prägte eine ganz neue Generation, aus deren Leben soziale Netzwerke und „Social Media“ nicht mehr wegzudenken sind. Eine neue Ära, die nicht nur Chancen, sondern auch Risiken mit sich bringt, denn das Internet vergisst kleine Aussetzer leider nicht so schnell wie unser per SMS beschimpfter Exfreund.

© Michal Grabowski

In diese Zeit, in der wir ständig die Möglichkeit haben, uns mit Mitmenschen auszutauschen und zu vergleichen, wird auch Karl hineingeboren. Gegenwärtig steht er kurz vor dem Abschluss seines Abiturs, hat aber im Unterschied zu seiner Zwillingsschwester Anna keinen Plan davon, welche Richtung er nach der Schule einschlagen möchte. Stattdessen widmet er seine volle Aufmerksamkeit seinem Blog „The language of many others“, den er vor allem mit heimlich gefilmten, privaten Familienvideos füttert. Eine befremdliche Angewohnheit, auch wenn die Frequenzen am Ende nur nervige Eltern, Stress in der Schule, Zukunftsängste oder die erste Liebe abbilden. Im Großen und Ganzen scheint Karl dem normalen Wahnsinn des Teenagerdaseins ausgeliefert zu sein, durch das wir uns alle einmal durchboxen mussten. Mit dem Unterscheid, dass er diesen Kampf im Gegensatz zu uns mit unbekannten Followern teilt. Spannend sind aus unserer Perspektive vor allem die Momente, in denen wir ein Teil von Karls Persönlichkeit sind; die Augenblicke, in denen wir seinen intimen Nachrichtenverlauf mitverfolgen. Der Zuschauer sieht alles, egal ob Karl nur belanglose Schlagwörter via Handy oder Laptop über Suchmaschinen erfragt oder ob er mit einem Freund über das hübsche Mädchen im Deutsch-Kurs textet. Und dann gibt es da diese Momente in Karls Leben, in denen er sein Handy komplett außer Acht lässt, abseits des Alltagswahnsinns. Das sind Augenblicke, in denen er mit seinen Freunden durch die Autowaschanlage fährt und die Wassertropfen in Zeitlupe an der Frontscheibe des ersten eigenen Autos abperlen, während die Gedanken dahinströmen. In solchen Momenten scheint Karl er selbst zu sein und glücklich.

© Michal Grabowski

 Im Strudel der Depression

Bis zu dem Tag, an dem Karl seiner Mitschülerin Doro seine Gefühle gesteht. Die lässt ihn allerdings nach einer kurzen Affäre wieder fallen und weist seine Empfindungen genervt zurück. Desillusioniert von dieser Abfuhr betrinkt sich der angehende Abiturient und lädt im Anschluss daran ein intimes Sex-Video von Doro auf seinen Blog. Karl droht nicht nur der Verweis von der Schule, seinem Vater scheint durch diesen Fauxpas ein wichtiger Job durch die Lappen zu gehen, die Ehe der Eltern gerät ins Wanken, der finanzielle Bankrott, der Verkauf des Hauses deutet sich an – ein riesiges Kartenhaus bricht zusammen und prasselt auf den lethargischen Jungen ein. In der Folgezeit übernimmt die Blog-Community immer stärker die Steuerung von Karls Leben: Ausgestattet mit Spycam und Earpiece schließt Karl verzweifelt seine Augen, um sich blind von seinen unbekannten „Freunden“ durch die Realität führen zu lassen. Solange, bis er auf die Stadtautobahn stolpert – dazu bereit, sich überfahren zu lassen.

Verlieren wir unsere Identität in der Virtualität?

Während Karls Leben zusehends vor unseren Augen außer Kontrolle gerät, hören wir in uns hinein: Ob auch wir unser Leben auf diese Weise aus der Hand geben könnten? Wir stellen uns die Frage, inwieweit unser Auftreten in Social Communities selbstbestimmt beziehungsweise fremdgesteuert ist. Ist es nicht eher das Ergebnis eines Sammelsuriums von Meinungen, der Mittelwert oder gar eine Schnittmenge der Standpunkte unserer Follower? Im geringen Maße wird unser Handeln schon ein wenig durch die Stimmer anderer – derer, die unsere Beitrage, Bilder, Stories tagtäglich auf Instagram, Facebook und Co. konsumieren – bewertet und kommentiert, beeinflusst. LOMO – THE LANGUAGE OF MANY OTHERS lässt diese Gedanken aufkommen, ohne abschließend eindeutige Antwort auf die vielen Fragen, die in uns aufkommen, zu geben.

Stattdessen wird uns aufgezeigt, was passieren kann, wenn wir die Kontrolle unseres Lebens aus der Hand geben und wir die Persönlichkeitsrechte von Freunden verletzen. Sobald sich Karl auf seinem Blog bewegt, scheint es, als blende er Themen wie Privatleben, Familie und berufliche Zukunft aus. Dabei ist es oft schwer, den Spagat zwischen „Ich teile nur (betrunken oder nüchtern) mein Privatleben“ oder „kommentiere nur die neue Frisur einer Freundin“ und verletze damit keine Rechte oder Gefühle Angehöriger, hinzubekommen. Noch schmaler wird dieser Grad in Tagen, an denen sich im E-Mail-Postfach eine Flut von Mails zum Thema Datenschutz ansammelt. Klar, Aufklärung soll Bewusstsein schaffen und deutlich machen, dass selbst die Weitläufigkeit des World Wide Web gesetzliche Grenzen hat. Für den unerfahrenen Karl ist surfen und hochladen selbstverständlich geworden, dabei ist der korrekte Umgang mit Daten eine Herausforderung für ihn. Das Internet sinnvoll für sich zu nutzen, heißt auch der Versuchung zu wiederstehen, das Denken nicht Anderen zu überlassen. Ein Schluss, den Karl schmerzhaft am eigenen Körper erfahren muss. Die Verantwortung, die wir für uns und andere tragen, muss neu verhandelt werden, ebenso wie der Begriff Identität, der weit über unseren Körper hinaus bis in die virtuelle Welt des Internets hineinreicht. Eine Welt, die sowohl Chancen als auch Risiken birgt. Ob sich für Karl am Ende doch noch alles zum Guten wendet oder ob er sein Leben im Automodus gegen die Wand fährt, könnt ihr ab dem 12. Juli 2018 deutschlandweit auf den Kinoleinwänden mitverfolgen.

© Farbfilm Verleih

Fazit: LOMO – THE LANGUAGE OF MANY OTHERS ist das sozialkritische Portrait einer Generation und eine Plattform, um dem Phänomen Identitätsverlust pädagogisch entgegenzutreten. Er begegnet den Jugendlichen auf Augenhöhe und ermöglicht Erwachsenen in die Gefühlswelt der Jugendlichen einzudringen. Zwar lebt LOMO nicht ohne Klischees wie „Eltern sind immer doof“, „erfolgreiche Eltern haben keine Zeit für ihre Kinder“ und endet klassisch im Worst-Case-Szenario, grundsätzlich ist der Film aber eine tolle Möglichkeit, Heranwachsenden den Umgang mit dem Internet, mit Blogs und das gerade so brisante Thema Datenschutz auf eine sowohl ernste als auch lockere, ja teilweise sogar witzige Art und Weise näherzubringen.

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