Kiez-Report über einen bunten Stadtteil mit vielen Tipps und Hinweisen Lieblingsplätze in Neukölln

Der einstige Problembezirk zieht mittlerweile ein großes Publikum an. Kein Wunder: Er hat unendlich viele Facetten. Die schönsten davon werden hier beleuchtet.

Der einstige Problembezirk zieht mittlerweile ein großes Publikum an. Kein Wunder: Er hat unendlich viele Facetten. Die schönsten davon werden hier beleuchtet.  

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Bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts hieß Neukölln noch Rixdorf und war eine kleine Stadt vor den Toren Berlins. Die aber hatte es in sich: Viele Bordelle und Nachtlokale verwandelten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Städtchen zu einem frivolen Anziehungspunkt für Arbeiter und Tagelöhner aus Berlin und Umgebung. Das Ansehen Rixdorfs litt, und die Bürger schämten sich für das kleine Gomorrha, in dem sie lebten. Nachdem man mehrere Jahrzehnte lang machtlos dem Treiben zusah, musste 1912 ein Imagewechsel passieren: Dazu änderte man zunächst mit Hilfe von Kaiser Wilhelm II. den negativ konnotierten Namen. Aus Rixdorf, dem Synonym für Prostitution, Alkoholexzess und Tanz, sollte Neucölln werden. In den 1920er Jahren ging der Ort in Groß-Berlin über. Der historische Kern Rixdorfs ist noch immer rund um den Richardplatz zu sehen: Hier befinden sich nach wie vor kleine Bauernhäuser, die weiterhin eher an ein böhmisches Dorf erinnern als an einen Ort mitten in Neukölln.

Nach dem Krieg, zu Zeiten der deutschen Teilung, wollte hier niemand so recht wohnen, lagen Neuköllns Grenzen doch unmittelbar an der Mauer zum Ostbezirk Treptow. So ließ sich hier aufgrund der billigen Mieten die Arbeiterschicht Westberlins nieder. Dazu gesellten sich arabische Einwandererfamilien, vor allem diejenigen mit palästinensisch-libanesischen Wurzeln, die während des Libanonkrieges Zuflucht in einer neuen Heimat suchten. In den Nuller Jahren machte der Stadtteil aufgrund seiner hoher Kriminalitätsrate Schlagzeilen, gleichzeitig zogen viele mittellose Künstler und Studenten her. Mit ihnen erhielten alternative Bars, Galerien und vegane Restaurants Einzug. Deshalb ist Neukölln mittlerweile zum wahrhaften Erlebnis-Potpourri geworden.

Architektur aus vergangenen Tagen

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Neuköllns Herz ist der Hermannplatz. Die Station der U-Bahnlinie 7 lässt erahnen, wie es oberhalb der Tunnel mal ausgesehen haben muss. Prunkvolle hohe Decken und Artdeco-Ornamente lassen die Haltestelle wie einen Palast erscheinen. Tritt man hinaus auf den Platz, ist davon nicht mehr viel übrig. Der Herrmannplatz ist ein chaotischer Verkehrsknotenpunkt. Der erste Blick fällt auf zahlreiche Marktstände und den Betonklotz Karstadt. Dort kann man in der obersten Etage einen Modellbau begutachten, der davon kündet, was auch dieses Kaufhaus einst zu bieten hatte: In den 1920er Jahren im Artdeco-Stil erbaut, galt es als das modernste Kaufhaus Europas. Allein optisch hätte man es eher in New York verortet. Am Ende des 2. Weltkrieges wurde es von der Wehrmacht gesprengt, um die dort eingelagerten Schätze nicht der russischen Armee zu überlassen. Ein kleines Stück der Restfassade ist an der Hasenheide übrig geblieben. Das beste ist am heutigen Hermannplatz der Orangensaftstand in der Mitte des Platzes, an dem man frisch gepressten Saft zu extrem günstigen Preisen kaufen kann. 

Schaut man genau hin, findet man aber auch heute im Stadtteil neben den unzähligen Arbeiteraltbauten noch wesentlich ältere Gründerzeithäuser mit Extratreppenhäusern für Dienstpersonal und andere Relikte aus vergangenen Zeiten. Zum Beispiel den schmucken Körnerpark: Die neobarocke Parkanlage erinnert mit Orangerie, Statuen und akkurater Bepflanzung an ein Mini-Versailles und ist vor allem im Sommer ein lauschiger Ort für ein Picknick. Wer im wahrsten Sinne des Wortes in Prunkzeiten eintauchen möchte, kann dies im 1914 fertiggestellten Stadtbad Neukölln (Ganghoferstr. 2) tun. Das neoklassizistische Schwimmbad gilt als eines der schönsten Berlins. Es erinnert durch seine Säulen und hohen Decken an eine antike Therme. Die Öffnungszeiten variieren. Montags ist das Bad nur Frauen zugänglich.

Ein weiteres architektonisches Highlight ist das Passage-Kino (Karl-Marx-Str. 131),  das 1910 als Lichtspielhaus seine Türen öffnete. Rote Samtsessel, Kronleuchter und stuckverzierte Decken wurden detailgetreu saniert. Es gehört zur Yorck-Gruppe und bietet ein vielfältiges Programm. Zwischen Arthouse und Mainstream bewegt sich auch das weniger pompöse Rollberg-Kino (Rollbergstr.70), das die Filme oft in OmU zeigt. 

Highlights aus Hummus

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Arabisches Leben ist in Neukölln omnipräsent. Vor allem auf der Sonnenallee floriert das orientalische Business: Unzählige Supermärkte, Shisha-Bars und Geschenkartikelshops reihen sich aneinander. Einer der empfehlenswertesten arabischen Shops auf der Sonnenallee verkauft Nüsse aller Art und nennt sich Ed&Freds Nussdepot (Sonnenallee 73). Eingehüllt im Duft frisch gerösteter Nüsse ist man beinahe überfordert von der riesigen Auswahl an herzhaften und süßen Knabberkreationen. Zu empfehlen sind die Rauchmandeln und die Zitronen-Pfeffer-Cashews.

Bei den kulinarischen Imbiss-Highlights scheiden sich die Geister: Azzam (Sonnenallee 54) oder Al-Andalos (Sonnenallee 40), wo gibt es den besten Hummus? Ich habe darauf noch keine Antwort gefunden, denn beide Läden sind unschlagbar. Es gibt viele libanesische Restaurants auf der Sonnenallee, aber die beiden genannten zählen zu den Spitzenreitern. Wer mehr Wert auf Ambiente legt, dem sei das recht neue Os’ Kitchen (Anzengruber Str. 20) ans Herz gelegt. Traditionelle arabische Küche wird hier modern interpretiert. Die Auswahl ist riesig: Neben Snacks wie

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Sandwich-Kreationen für den kleineren Hunger gibt es auch Manakish, eine Art orientalische Pizza, sowie vielfältige Vor- und Hauptspeisen. Die Inneneinrichtung besticht mit freigelegtem Mauerwerk, Designermöbeln und gemütlicher Beleuchtung. Der Besitzer Osam hat sich mit dem Lokal einen Traum erfüllt und die Erfahrung aus über 15 Jahren Gastronomie hineingesteckt: „Wir legen Wert darauf, arabische Küche für jeden zugänglich zu machen – auf Wunsch erklären wir dem Gast jedes Gericht und sind offen für vielerlei Extrawünsche“. Das Konzept geht auf: Hier genießen jung und alt, Touristen und waschechte Neuköllner die Kochkünste von Osam und seinem internationalen Team.

Kulinarisch gibt es in Neukölln schier unendliche Möglichkeiten. Burgerfans kommen bei Schillerburger (Karl-Marx-Str. 223), von denen es mittlerweile schon neun Stück in ganz Berlin gibt, auf ihre Kosten. Knusprige Brötchen aus der eigenen Backstube treffen auf frische Saucen und regionale Zutaten. Authentisch italienisch geht es im Sala da Mangiare (Mainzer Straße 23) zu. Getreu seines Namens sieht das Lokal aus wie ein gemütliches Esszimmer mit wenigen Tischen. Meistens gibt es italienische Käse- und Wurstsorten in Bioqualität als Antipasti und zum Hauptgang

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hausgemachte Ravioli mit saisonalen Füllungen. Für wen jedoch italienisches Essen untrennbar mit Pizza verbunden ist, wäre La Tarantella (Weichselstraße 62) wärmstens empfohlen. Ohne großes Chichi gibt es in der Pizzeria erstklassige Steinofenpizza in riesiger Auswahl. Ein gastronomischer Neuzugang ist das Hugo Ball (Saalestr. 38), das sich selbst als Flammerie und Bar bezeichnet. Die fantastischen Flammkuchen lassen sich im Sommer auf der schönen Terrasse genießen. Einen Besuch wert ist auch Burrito Baby (Pflügerstr. 11). Vegetarische und vegane Burritos, die anstelle von Fleisch mit pikant marinierten Sojaschnetzeln oder Tofu serviert werden. Alles ist hausgemacht, von den Salsas bis hin zur Guacamole. 

Lange Nächte in Neukölln

Bars und Kneipen gibt es zuhauf: Empfehlenswert ist das Circus Lemke (Selchower Str. 31). Hier bekommt man kompetent gemixte Drinks aus hochwertigen Spirituosen. Eine andere nette Bar ist das Valentin Stüberl (Donaustr. 112), in der die Gäste zu Bier und Wein auch Snacks wie Obatzda und Leberkäse bestellen können. Für abendliche Unterhaltung sorgen eine regelmäßige Plattenzwangsversteigerung oder die Talkrunde Simi Will, bei der z.B. schon Rosa von Praunheim zu Gast war.

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Nach einer kulinarischen Stärkung und dem einen oder anderen Drink kann es ins Nachtleben gehen, zum Beispiel in das skurrile Sameheads (Richardstr. 10): Tagsüber Shop, in dem man Nachbildungen intimster Körperteile als Halsketten kaufen kann, abends Bar mit Veranstaltungen wie Pubquiz, und nachts geht es eine Treppe hinunter in den Keller, in dem sich ein Club befindet. Eine Institution im Nachtleben ist die Griessmühle (Sonnenallee 221). Das ehemalige Industriegelände am Kanal ist ein Clubgarten, der an die Tradition legendärer Open Air-Parties anknüpft. Aber auch die inneren Räumlichkeiten verleiten dazu, bis in die Morgenstunden zu bleiben. Von außen nicht unbedingt ersichtlich ist der Club mit dem Namen Keller (Karl-Marx-Str. 52 im 2. Hinterhof), in dem es sowohl Jazzveranstaltungen, Punkkonzerte als auch namhafte DJ-Acts gibt. Die LSBTI- Gemeinde trifft sich im SchwuZ in der Rollbergstraße 26, dem größten queeren Club der Stadt. In der als sozialer Brennpunkt verschrienen Ecke wurde das SchwuZ übrigens entgegen aller pessimistischen Prophezeiungen freundlich aufgenommen.    

Die Kehrseite der Medaille

 

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Der Stadtteil hat also in seiner Vielfalt einiges zu bieten – doch all das Aufgeführte, was als positive Stadtentwicklung eigentlich begrüßenswert
wäre, hat dazu geführt, dass der Zuzug inzwischen riesig ist. Mit fatalen Folgen: Altmieter werden vertrieben, Wohnhäuser aufgekauft und luxussaniert, um anschließend Touristen als Airbnb-Unterkunft zu dienen. Die Heterogenität, die Neukölln so charmant gemacht hat, befindet sich auf dem absteigenden Ast: Eine neue Wohnung finden hier mittlerweile eher zahlungskräftige Einzelpersonen als große Familien. Martin Gorecki vom Quartiersmanagement Ganghoferstraße berichtet, dass vor wenigen Jahren noch Kästen mit Wohnungsangeboten überall in Neukölln  zu finden waren. Das Überangebot ist ins Gegenteil umgeschlagen: „Mittlerweile sammeln sich vor den Wohnungsbesichtigungen in Neukölln Trauben von 40,50 Leuten“, so Gorecki. „Dem Mietmarkt fehlt die Reglementierung – eine Wohnung ist nicht ein herkömmliches Produkt wie die Möhren, bei denen ich entscheiden kann, in welchem Supermarkt ich sie kaufe.“ Vom Ausdruck „Gentrifizierung“ hält Gorecki nicht viel. Man könne nicht den Zugezogenen die Schuld an der Misere auf dem Mietmarkt geben – das Problem läge bei den Vermietern. 

Eigentlich liegt es bei der Politik: Die Instrumente Mietpreisbremse und Milieuschutz scheinen zu schwach ausgestaltet, um die Kiezentwicklung sozial sinnvoll zu steuern. Edellokale, Biosupermärkte und Holzspielzeuggeschäfte siedeln sich da an, wo vorher noch Handyshops und Chicken-Imbisse ihr Dasein frönten. Dazwischen häufen sich schicke Eigentumswohnungen. Und Weichsel- und Weserstraße könnte man eine Zukunft als Simon-Dach-Straße 2.0 prognostizieren: Im Monatstakt eröffnen neue Bars und Restaurants. Fraglich, wie die Zukunft des Stadtteils aussehen wird. Man kann nur hoffen, dass er uns mit all seinen Facetten erhalten bleibt: Mit preiswertem Orangensaft, arabischen Schriftzügen auf der Sonnenallee, jeder Menge Historie und einer alles andere als eintönigen Bewohnerschaft.