Freiwillig obdachlos querstadtein: Die etwas andere Stadtführung

Uwe Tobias war jahrelang odachlos, heute hat er wieder ein Dach über dem Kopf und zeigt mit „querstadtein“ Berlin aus der Perspektive eines Obdachlosen.

© Mathias Becker
„Dit is ne Jeschichte, die globt mir so keener. Aber dit is‘ keen Märchen, dit is‘ meene Jeschichte.“ Uwe Tobias, 56 Jahre alt, gibt Stadtführungen der etwas anderen Art. Nach sieben Jahren Obdachlosigkeit vermittelt er heute Interessierten unter dem Titel „Draußen schlafen ist eine Kunst“ seinen Blick auf die Stadt und erzählt seine besondere Geschichte.

Der stämmige Mann sitzt auf einer Bank neben einer Brück am Berliner Hauptbahnhof und erklärt der Gruppe, was man beachten müsse beim Schlafen unter freiem Himmel. Zu seiner Obdachlosenzeit von 1991 bis 1998 gab es die Bank, auf der er jetzt sitzt, noch nicht. Damals hat er hier noch auf dem Boden geschlafen. Da sei es gut, Bananenkisten zu haben. Die gibt es im Obstladen oder bei Aldi. Man faltet sie auseinander, sodass man zwei Schichten hat. Tobias gestikuliert wild mit den Armen, zeigt an einer imaginären Pappe, wie man sie falten muss. Die Pappe dämmt, hält ein bisschen der Kälte ab. Auf die Pappe kommt die Isomatte. Dann der Schlafsack. Wichtig vor allem im Winter: Decken. Aber die sind Luxus.

„Ick war frei, mir jings jut! Ick wollte dit ja so“

Die Gruppe von etwa zwanzig Leuten hört Uwe Tobias gespannt zu. „Ick war frei, mir jings jut! Ick wollte dit ja so“, sagt er. Vergnügt pfeifend führt er die Gruppe an der Spree entlang. An einer Bank macht er halt: Von hier aus bieten die Museumsinsel und der Dom eine idyllische Aussicht. Hier saß Uwe Tobias früher gerne mit seinen Freunden, um zu trinken und die entlangfahrenden Schiffe zu beobachten. Abends klangen die beruhigenden Gesänge aus der Oper herüber, da konnten sie gut einschlafen.

Uwe Tobias holt ein altes Einkaufnetz heraus. Die grüne Farbe ist ausgeblichen, einige Schlaufen sind gerissen, aber es ist immer noch funktionstüchtig. Seine Oma habe es ihm vermacht, er trägt es immer bei sich. Früher hing er das Netz in die Spree, um seine Getränke zu kühlen. Er war alkoholkrank, sieben Jahre lang. „Drei Bier und ein Korn sind auch ein halbet Schnitzel, hab‘ ick immer jesacht“. Und gelebt. Nüchtern war er gar nicht mehr. Irgendwann hat er gemerkt, dass er so nicht weitermachen kann. Mit einer Therapie schaffte er es, den Alkohol zu besiegen. Heute trinkt er Malzbier statt Pils. Oder er holt sich einen Eimer Eis, der macht ihn auch glücklich. Sein neues Motto lautet nun: „Ick kann nich‘ trinken, weil ick nich‘ will und ick will nich‘ trinken weil ick nich‘ kann“. Manchmal kommt er noch zurück zu einem Lieblingsplatz an der Spree, erzählt er, um  genüsslich einen Kaffee zu trinken und sich an der ruhe zu erfreuen.

Leben auf der Straße als Experiment

 

Wo er das ganze Geld für den Alkohol denn her hatte, unterbricht ihn eine Frau aus der Gruppe. Uwe  Tobias bezog eine politische rente, und die bekommt er heute noch. Denn er war zu DDr-Zeiten neuneinhalb Jahre als politischer Häftling im Zuchthaus inhaftiert. Warum? „Ick hab für die Freiheit jekämpft und wollte in‘ Westen!“ Zunächst saß er wegen Körperverletzung, dann wegen „asozialen Verhaltens“. Aus dieser Zeit hat er physische und psychische Schäden mitgenommen, sodass er heute arbeitsunfähig ist. Der Fall der Mauer rührte Tobias sehr. „Lieber drüben in der Gosse landen als hier im Wartburg rumzufahren“, war sein Motto, das er später leben wollte. „Ick hab‘ rotzblasen und Dreierschnecke jeheult, als ick Genscher uff dem Balkon jesehen hab“, erinnert er sich.

Mittlerweile steht die Gruppe ein Stückchen weiter unter einem Baum. Es fängt an zu regnen, doch die großen Blätter des Baumes schützen vor den Wassertropfen. Immer wieder betont Uwe Tobias, dass die Zeit nicht schlimm für ihn war, dass er sie selbst so gewählt hatte. „Dit war meen Leben und mir jing’s jut dabei. Ick hab’s doch so jewollt.“ Deswegen denkt er gar nicht darüber nach, wie es hätte anders laufen können. Nach der Wiedervereinigung wohnte er zunächst bei seiner Mutter und seiner Schwester. Dann setzte er sein Motto in die Tat um. „Eigentlich wollte ick ja bloß drei Tage auf der Straße leben.“ So als Experiment, als Selbstversuch. Das Geld für eine Wohnung wäre dagewesen. Doch dann lernte er seine drei Freunde kennen: „Kettenrudi“, „Tankstellendieter“ und „Fisch“. Die vier wurden schnell unzertrennlich. So wurden aus den drei Tagen sieben Jahre, die er auf der Straße verbrachte.

„Wenn man da einmal raus ist und so viel erreicht hat wie ick jetzt, will man dit nich‘ wieder alles für ‘nen Schluck Bier uffjeben.“

Der Abstieg ging ganz schnell. Seine Freunde tranken, also trank er mit. In den sieben Jahren gingen die vier zusammen durch dick und dünn. Heute lebt keiner seiner drei Freunde mehr. Sie haben es nicht geschafft, aus dem Sumpf herauszukommen so wie Uwe Tobias. Ab und zu hatte er sie noch besucht, ihnen eine Palette Bier spendiert. Er trank nicht mit. „Wenn man da einmal raus ist und so viel erreicht hat wie ick jetzt, will man dit nich‘ wieder alles für ‘nen Schluck Bier uffjeben.“ Denn er ist glücklich in seiner heutigen Situation. Er hat seine eigene Wohnung, lebt von Hartz IV. Ehrenamtlich arbeitet er als Hausmeister bei der Stadtmission und macht seit Oktober 2013 Stadtführungen für „querstadtein“.

Letzte Station ist der Alexanderplatz. „Und hier endet meine Jeschichte“, schließt Tobias abrupt. Er bedankt sich bei den Teilnehmenden der Führung und verabschiedet sich. Es gibt einen kleinen, verhaltenen Applaus. Die Leute sind ergriffen. Sie bleiben noch einen Moment stehen, fassen sich und richten einige persönliche Worte an den Stadtführer. Uwe Tobias berühren die positiven Rückmeldungen. „Dit freut mir jedes Mal, mir jeht dit Herz dabei uff. Obdachlosigkeit jeht jeden an.“ Er hat Spaß an den Stadtführungen, ist froh, dass er dadurch seine Erfahrungen mit anderen teilen kann.

Die Zeit als Obdachloser hat er in seiner Erinnerung gespeichert, aber er kann damit abschließen. „Ich nehm‘s nich‘ mit nach Hause. Wenn die Tour zu Ende is‘, denn war’s schön, dass ich davon erzählen durfte und denn mach‘ ick aber die Klappe zu“, sagt er in ernstem Ton und verschwindet in seinem beschwingten Gang zwischen den Menschenmassen in den Tiefen des U-Bahnhofes.


Infos: Querstadtein-Stadtführungen kann man auf www.querstadtein.org buchen