Kiezreport Schöneweide zwischen Kunst und Industriekultur

Das größte Industriegebiet Ost-Berlins ist es gewesen. Seitdem hat Schöneweide einiges durchgemacht. Geblieben sind die Industriehallen, die von der Vergangenheit erzählen und Raum bieten für Künstler und Kreative.

© David Dollmann
Schöneweide – Schweineöde. Das Anagramm galt lange Zeit als die treffendere Beschreibung für die Ortsteile Ober- und Niederschöneweide. Doch was lange unbemerkt blieb, ist nun ein offenes Geheimnis: Es ist was los im Randbezirk an der Spree.

Was Schöneweide ist, was es sein kann, liegt zu einem großen Teil im Auge des Betrachters: der Gebliebenen und der Hingezogenen, der Künstler, jungen Familien und Studierenden, aber auch der Politiker und Investoren. Allein was es war, ist nicht zu übersehen, geht man die Wilhelminenhofstraße mit den „Industriekathedralen“ aus gelbem Backstein entlang. Die Geschichte beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, als Emil Rathenau, der Gründer der AEG, das Gelände an der Spree für die aufstrebende Elektroindustrie entdeckte. Um mehr über die Denkmäler aus der Zeit Berlins als „Elektropolis“ zu erfahren, bietet sich ein Besuch im Industriesalon in der Reinbeckstraße an. Die Ausstellung zeigt Elektronen- und Fernsehröhren, Störsender gegen den Westfunk oder auch eine Elektroorgel, die lange Zeit in der Komischen Oper im Einsatz war. Alles entstand am Industriestandort Schöneweide. Es ist natürlich nicht nur eine Geschichte der Technik, sondern auch der Arbeit. 30.000 Menschen waren hier einmal tätig. 

Die „braunste Straße Berlins“

© Hendrik Rohling
Und dann kam die Wende und nur wenige Ausgründungen aus den DDR-Betrieben überlebten. Die Depression der 90er Jahre schuf auch den Raum für die rechte Szene. Vom S-Bahnhof Schöneweide zur Spree geht es auf der Brückenstraße entlang. Unscheinbar wirkt sie. Doch noch vor Jahren galt sie als die „braunste Straße Berlins“. Dies lag an zwei Nazitreffpunkten, die es heute nicht mehr gibt: die Kneipe Zum Henker sowie der Laden eines NPD-Funktionärs. Von „Problemkiez“, „Angstzone“ oder „Biotop der Rechten“ war die Rede. Vor den Wahlen drängten sich die Plakate der rechten Parteien wieder in das Straßenbild. Ansonsten sind die Neonazis mit ihren Symbolen und Parolen weitgehend verschwunden.

Aufbruchsstimmung

Nach der Wende saß die Wunde tief. Die leerstehenden Fabrikhallen waren Ausdruck des Niedergangs der einstigen Industriehochburg. Inzwischen stehen viele der Industriebauten, insbesondere errichtet vom Architekten und Industriedesigner Peter Behrens, unter Denkmalschutz. Besonders sehenswert ist der Peter-Behrens-Bau in der Ostendstraße mit dem mächtigen, 58 Meter hohen Turm. Hier wurden am Ende des ersten Weltkriegs LKW produziert, dann PKW und zu DDR-Zeiten Fernsehelektronik. Zuletzt stellte Samsung Bildröhren her – bis 2005, als Flachbildschirme den Markt erobert hatten. Es lohnt sich ein Blick in das Gebäude. Mit dem Paternoster geht es in den fünften Stock. Darunter erstreckt sich der Lichthof umschlossen von vier Arkadenreihen – alles in strahlendem Weiß.

© Steffen Blunk

Heute regt sich wieder Leben in einigen der einst verlassenen Industriebauten. Zu verdanken ist das etwa der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW). Sie siedelte sich 2009 auf dem Gelände des ehemaligen Kabelwerks Oberspree an. Maschinenbau, Elektrotechnik oder Kommunikationsdesign lässt sich hier zum Beispiel studieren. Daneben bereichern etliche Künstler den Kiez. Dazu gehört auch Steffen Blunk. Er gründete 2012 in Räumlichkeiten des ehemaligen Transformatorenwerks die Ateliersgemeinschaft XTRO, in der etwa 40 Künstler arbeiten. In seinem Atelier sind mehrere seiner Werke zu sehen. Es sind Bilder mit ausgemeißelten Frauenfiguren. Darunter hängen kleine Plastiktüten mit den Spänen. Es ist ein Spiel um das Verblassen von Erinnerung. Wie man die Leerstelle füllt, liegt ganz im Auge des Betrachters. Gerade verhandelt Blunk über einen neuen Mietvertrag.

Es sei das Paradoxon der Gentrifizierung, dass Künstler ihre eigene Verdrängung vorantreiben, sagt er nüchtern. Erst werten sie den Stadtteil auf, dann können sie sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten. Für sich und seine Kollegen wünscht er sich langfristig Sicherheit. Wie Emil Rathenau die industrielle Entwicklung des Ortes für Jahrzehnte plante, so stellt sich Blunk das auch für den Kreativstandort Schöneweide vor.

Kreative Hochburg

© Hendrik Rohling

Einblicke in das künstlerische Schaffen im Kiez bietet das jährliche Festival „Kunst am Spreeknie“, benannt nach der charakteristischen Biegung, die die Spree hier macht. Bereits zum neunten Mal öffneten im Juli Ateliers ihre Pforten und zeigten in Ausstellungen, was hier alles entsteht. Wer den Rest des Jahres nach Kultur verlangt, kann etwa zu Jazzkonzerten in die NOVILLA in der Hasselwerder Straße gehen. Hier residiert seit zwei Jahren die Künstlergemeinschaft Moving Poets. Die Jugendstilvilla liegt direkt am Kaisersteg, wiedererrichtet vor knapp zehn Jahren. Über die alte Spreebrücke liefen täglich Tausende Menschen zur Arbeit – bis zur Sprengung am Ende des zweiten Weltkriegs.

Veranstaltungen gibt es ab und an auch im KAOS, das ansonsten ein Coworking-Space, eine kreative Arbeitsgemeinschaft, ist. Künstler und andere Kreative teilen sich zum Designen und Werkeln eine große Halle und öffnen manchmal ihre Tore. Zum Beispiel für Wortakkord, ein Poetryslam, bei dem die Dichter von den Improvisationen dreier Musiker begleitet werden. Die Kollegen vom BETT – auch so ein Ort kreativer Zusammenarbeit, in einer ehemaligen Weißbierbrauerei – organisierten zuletzt Wochenmärkte in ihrem wunderschönen Hinterhof. An jedem Mittwoch gibt es außerdem, na klar, den BETTwoch mit Cocktails und Bier. Was die Kreativen alles auf die Beine stellen, verstärkt das Gefühl, dass es an anderem fehlt: an guten Bars zum Beispiel. In dieser Hinsicht ist Schöneweide noch weit von Friedrichshain und Co entfernt. Ob es dem Kiez jedoch zu wünschen ist, dass sich das Rad der Gentrifizierung allzu schnell weiterdreht, muss eine offene Frage bleiben. 

Zum Schluss noch ein paar Empfehlungen: Der Charme der Industriekultur lässt sich am besten bei einem Kaffee genießen. Im Café Schöneweile neben dem Industriesalon ward selbst Bryan Adams schon gesehen. Unweit steht die Halle, die sich der kanadische Rocksänger vor drei Jahren kaufte. In ihr sollen Künstlerateliers entstehen. Das Kranhauscafé ein Stück weiter bietet direkten Spreeblick im postindustriellen Ambiente, das Schöneweide so sehr auszeichnet. Der Kran diente früher dem Verladen von Kohle, die im Uferbereich lagerte. Dann entstand aus dem Kran ein Kranhaus, dessen obere drei Etagen sich übrigens über Airbnb mieten lassen. An Restaurants sei empfohlen: Amaranth, das Restaurant des Essentis Hotels, mit veganem Essen, alles natürlich bio und aus der Region. Gutes griechisches Essen serviert das Artemis direkt an der Spree. Und wer Lust auf eine leckere Pizza hat, ist bei Chero in der Schnellerstraße gut aufgehoben.

Konzertbühne und Naherholung

Skater und BMX-Enthusiasten kommen im riesigen Mellowpark auf ihre Kosten. Wer das Grüne sucht, muss auch nicht weit. In der Wuhlheide liegt die Kindl-Freilichtbühne und das Freizeit- und Erholungszentrum (FEZ) mit Puppentheater, Schwimmhalle und einem Raumfahrtzentrum. Daneben gibt es einen Modellpark, einen Kletterwald, und eine Parkeisenbahn. Kinder und Familien können hier also einiges erleben. Unweit befindet sich auch der Waldfriedhof, den Emil Rathenau anlegen ließ. Im Familiengrab im Jugendstil ruht auch er, der die Industrie nach Schöneweide brachte. Die Leerstelle, die der Verlust der industriellen Identität hinterließ, füllen nun langsam andere, mit bunteren Farben.

Infos: Der Industriesalon steht Dienstag bis Sonntag von 14 bis 18 Uhr Besuchern offen. Für Führungen durch die Industriekultur von Schöneweide siehe www.industriesalon.de.

Text: Hendrik Rohling, Fotos: David Dollmann, Hendrik Rohling