Ein Tag in der JVA Dresden

Ein langer Gang. Zu meiner Rechten: Ein (Schau)Fenster, durch das man die angebotenen Produkte sieht. Wenn man nur dieses Blickfeld hat, könnte man genauso denken,
man stehe in der untersten Etage eines Einkaufszentrums. Nutella-Gläser neben Cornflakes-Schachteln ordentlich gestapelt. Ein Lieferant, der neue Waren bringt und ein paar Männer, die sie sorgfältig in die Regale sortieren. Das hier könnte ein gewöhnlicher Vormittag sein. Kalt, aber sonnig. Der einen irgendwie dazu verlockt, sich heute mal die teure Schokolade zu gönnen.
Aber das hier, das hier ist nicht echt. Nicht für mich. Und ich werde hier auch hoffentlich nie einkaufen gehen müssen …

Ein langer Gang. Zu meiner Rechten: Ein (Schau)Fenster, durch das man die angebotenen Produkte sieht. Wenn man nur dieses Blickfeld hat, könnte man genauso denken, man stehe in der untersten Etage eines Einkaufszentrums. Nutella-Gläser neben Cornflakes-Schachteln ordentlich gestapelt. Ein Lieferant, der neue Waren bringt und ein paar Männer, die sie sorgfältig in die Regale sortieren. Das hier könnte ein gewöhnlicher Vormittag sein. Kalt, aber sonnig. Der einen irgendwie dazu verlockt, sich heute mal die teure Schokolade zu gönnen. Aber das hier, das hier ist nicht echt. Nicht für mich. Und ich werde hier auch hoffentlich nie einkaufen gehen müssen …

 

Das Gefängnis als Filmset

Es ist eine Stadt in der Stadt. Es gibt hier alles, was man zum Leben braucht, wenn man denn hier leben muss. Angefangen bei einem Einkaufsladen über eine Schule, Theater, Werkstätten, eine Bäckerei, Sporthalle, bis zu kleinen und größeren Höfen mit einem Basketballfeld – aber auch mit dicken Betonmauern. Um die JVA Dresden rankt aber nicht nur spitzer Stacheldraht, sondern, wie wohl um jedes Gefängnis, die einen oder anderen Mythen, Vorurteile oder Klischees. Manch ein Tatort mag da seine kreativen Drehbuch-Finger im Spiel haben und dem Zuschauer so seine ganz eigene Vorstellung vom Gefängnisleben auf die Großhirnrinde projizieren – erinnert man sich da nicht zuletzt an den darstellenden Häftling des Dortmunder Tatorts Markus Graf, der eine minutiöse Choreographie auf dem Parkett des Wahns hinlegt und damit, auf dem Teppich der Psyche Kommissar Fabers’ tanzend, in die Freiheit entschwindet. Aber an welcher Stelle verschwimmen genau jenes Drehbuch und die Realität miteinander? An welcher Stelle reibt man sich als jahrelanger Mitarbeiter einer Haftanstalt, wenn man solche Szenen sonntagabends auf der Couch sieht – aber täglich mit der Wirklichkeit bricht? Das Gefängis als Realität „Die Gefangenen bezahlen hier nicht mit echtem Geld“, erklärt mir Anja Kirsten, die Vollzugsabteilungsleiterin, während wir durch das eingelassene Fenster zu einem kleinen Laden in einem Gang des JVA-Komplexes schauen. „Sie kommen hier mit einem Kontoauszug her, den sie von uns bekommen.“ Damit sollen in der Haftanstalt illegale Geldgeschäfte unterbunden werden. Um das Geld zu verdienen, das schlussendlich auf dem Kontoauszug steht, können sich die Gefangenen aber auf eine Arbeitsstelle innerhalb der vor Ort befindlichen Handwerksbetriebe bewerben. „Wir haben für alles ein Formular, welches die Inhaftierten ausfüllen müssen, sodass wir je nach Einzelfall entscheiden können, ob derjenige die nötigen Voraussetzungen erfüllt.“ Ein wirkliches Schema F gibt es dabei nicht. Kann es gar nicht geben. Je nach Verhalten in der Haft, Drogenvergangenheit, beruflichen Fähigkeiten und geistige sowie körperliche Eignung für den umworbenen Arbeitsplatz, wird individuell entschieden.

805 Haftplätze – 97,5% Auslastung

Dass das gar nicht so einfach ist, merkt man bereits an den Zahlen: Die JVA Dresden fasst momentan etwa 780 Gefangene, im Alter von Mitte 20 bis etwa 70 (Stand Februar 2018). Nicht jedem ist der begehrte und auch rare Arbeitsplatz vorbehalten. Nicht zuletzt wegen der strengen Auswahlkriterien. Die vorhandenen Arbeitgeber sind zum einen externe Betriebe, welche sich die Arbeitsstätten in der Haftanstalt mieten, aber auch hauseigene Betriebe (Wäscherei, Reinigungsdienste etc.) mit der Möglichkeit eine Ausbildung abzuschließen, wie beispielsweise in der internen Bäckerei. Tatsächlich reihen sich mehrere riesige Lager- und Werkstätten im Gebäudekomplex, in denen sich die einzelnen internen und externen „Tätigkeiten“ sammeln. Einige verwirrende Gänge und Treppengebäude später stehen wir in einem Schulkorridor. Hier wird das Fundament nachgeholt bzw. gegründet, bevor überhaupt an eine Ausbildung gedacht werden kann. Die Türen der Klassenräume sind geöffnet. Es ist Pause. Männer unterschiedlichen Alters stehen auf dem Gang, unterhalten sich, albern miteinander herum oder stehen vor der Tür auf dem Hof, um eine zu rauchen. Einer der Inhaftierten sieht Frau Kirsten. Grüßt, kommt auf uns zu und berichtet über die letzte Schulstunde. Biologie. Das ist ok. Englisch fällt ihm schwerer, dafür ist er in Mathe gut. Nur ein wenig Prüfungsangst habe er, beichtet er der diplomierten Soziologin. Nichts an ihm wirkt bedrohlich. Außer vielleicht das Wissen, dass er nicht umsonst hier ist. „Man sieht den Menschen ihre Vergangenheit nicht an“, erklärt mir Herr Schumann, Abteilungsleiter der Funktionsdienste, als ich meine Gedanken nach dieser vermeintlich harmlosen Szenerie laut ausspreche. 

„Knast muss wehtun“

Frau Kirsten führt regelmäßig Gespräche mit den Gefangenen, die ihrer „Obhut“ unterliegen. Dabei werden schulische Schwierigkeiten, aber auch Liebeskummer oder das Essen in der Kantine, das heute mal nicht geschmeckt hat, thematisiert. Klar, inwiefern sollten sich menschliche Probleme auch von den menschlichen Problemen derer unterscheiden, die hier inhaftiert sind? Wie das ist, frage ich also, wenn Menschen, die Unrecht begangen haben, trotzdem einen Anspruch auf Anteilnahme an ihren Problemen erheben: Der Spagat zwischen rational distanzierter Respektsperson und „Kummerkasten“ erfordert einen starken Geist – man darf nicht außer Acht lassen, dass derjenige nicht ohne Grund hier ist. Doch entgegen der allgemeinen Vorstellung, „Knast muss wehtun“, erhebt an dieser Stelle der Begriff der Sicherheitsverwahrung – zu Recht moralisch – das Wort. Was viele nämlich vergessen: Die Entscheidungsgewalt über die Art und Höhe der Strafe liegt bei den Gerichten – das Gefängnis ist infolgedessen nur ein ausführender Apparat, eine Vollzugsbehörde. Bei dem Begriff der Strafe geht es nicht nur darum, jemanden für sein Vergehen büßen zu lassen. Es geht darum, den Bürger vor einer potentiellen Gefahr zu schützen und gleichzeitig den straffällig gewordenen Menschen dazu  zu befähigen, sein weiteres Leben straffrei zu gestalten. „Dazu gehört selbstverständlich ein beidseitig respektvoller Umgang“, erklärt Frau Kirsten. „Viele haben die Ansicht, die Gefangenen werden hier viel zu lasch behandelt und müssten eigentlich verprügelt werden.“, wirft Herr Schumann, der unter anderem für den Besuch, den Gefangenentransport und die Sicherheit zuständig ist, ein. Dass dies aber nicht der Sinn der Sache sein kann, macht Frau Kirsten schnell klar: „Es geht schließlich auch darum, denjenigen wieder in die Gesellschaft einzugliedern und das möglichst so, dass von ihm keine weitere Gefahr mehr ausgeht. Denn genau das ist es doch, was der Bürger am Ende möchte: Dass diese Sicherheit weiterhin gewahrt wird. Das erreicht man nicht mit Gewalt.“

Sanktionen gibt es dennoch

Selbstverständlich werden bei Nichteinhaltung der vorgegebenen Regeln oder Missverhalten individuelle Sanktionen erlegt, beispielsweise der Ausschluss von Freizeitaktivitäten oder der Arbeit. Jedoch unter Einhaltung gegebener Auflagen und Erfüllung be-
stimmter Voraussetzungen dürfen die Inhaftierten an freizeitlichen Aktivitäten wie Theater-, Schach- oder Sportgruppen teilnehmen. Davon ausgeschlossen sind beispielsweise Menschen mit risikoreichem Gewaltpotential. Auch eine kleine Bücherei mit Spenden aus der Bevölkerung hat hier einen Raum gefunden. Was hier am Häufigsten ausgeliehen wird, frage ich. Überrascht stelle ich fest, dass ich mit meinem Einwurf „Thriller und Krimis“ gar nicht so sehr ins Klischeenäpfchen trete und trotzdem überrascht werde: „Am häufigsten werden Gesetzesbücher ausgeliehen, Pornografisches, Comics und Sprachbücher”, antwortet die Vollzugsabteiltungsleiterin. Letzteres ist vor allem darauf zurückzuführen, dass innerhalb der letzten Jahre eine Klientelveränderung stattgefunden hat: Etwa 32 % der Inhaftierten sind Ausländer (Stand Februar 2018). Unter anderem einige aus dem arabischen Raum, bei denen die Sprache nicht einfach als „arabisch“ abgespeist werden kann, sondern sich in viele Subformen aufspaltet und für die man zunächst Dolmetscher finden muss. Auch Analphabetismus spielt eine nicht unwesentliche Rolle, wenn das Thema Sprache aufkommt. „Viele Analphabeten haben ja über Jahre Strategien entwickelt, um ihre Schwäche zu verbergen, die erst hier aufgedeckt wird.“ Viele der weiteren problematischen Aspekte, von denen ich erfahre: Gewaltpotential, psychische Erkrankungen, Drogengeschichten, aber auch für uns scheinbar total banale Anliegen wie Liebeskummer, berufliche Laufbahn oder Verlustängste bilden ein unglaublich komplexes Spektrum an möglichen Herangehensweisen und verlangen nicht nur Fachwissen, sondern eine starke Persönlichkeit ab. Es gibt hier nicht diese eine Lösung für alle.

Elf Quadratmeter gefüllt mit Einsamkeit

Das hier ist eine Stadt in der Stadt, in der Menschen mit krimineller Vergangenheit leben. Deren Tag morgens mit einem Blick aus einem Gitterfenster beginnt – und nicht ins Internet, denn das ist hier verboten. Deren ins-Bett-Gehen nicht von einem „Gute Nacht“ von Mitbewohnern, Partner oder Familie begleitet wird, sondern von Regeln, Maßnahmen und festgelegten Ritualen und auf ca. elf Quadratmeter begrenzt – standardmäßig ausgestattet, mit nicht mehr als einem Becher, Besteck und einer Decke. Warum es keine Kissen gibt, frage ich. „Leicht brennbar“, bekomme ich mit einem vielsagenden Blick zurück. Auch sonst sind die Zimmer eher trist. Einzel- oder Doppelstockbetten, ein Tisch, ein Schrank – bis auf den Stuhl ist alles fest angeschraubt. Nur ein Raum unterscheidet sich komplett von den anderen. Es ist der letzte, den wir uns heute anschauen.

Papa besuchen

Die Wand davor ist mit einem Schriftzug versehen: Ehe- und Familienfreundlicher Besuch. Tatsächlich erinnert das Innere der Räumlichkeiten an eine kleine Zwei-Zimmer-Ferienwohnung bestehend aus einem Schlafzimmer und Wohn- und Küchenbereich mit Zugang auf eine kleine Terrasse mit Sandkasten. Anders als bei den gewöhnlichen Zimmern gibt es hier einen echten Kochbereich mit Herd und Ofen, Radio und Fernseher. Auf dem Doppelbett liegen sogar Kopfkissen. Auch für diesen Raum müssen die Häftlinge einen Antrag stellen. Er dient in erster Linie dazu, den Eltern-Kind-Kontakt so normal wie möglich aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich gibt es auch gewöhnliche Besucherräume. „Entgegen der allgemeinen Vorstellung haben diese aber keine getönten Scheiben, durch die man den Besuch beobachtet.“, klärt die Soziologin auf. Neben den klassischen Besucherräumen gibt es auch einen speziell für Kinderbesuch. Er umfasst zwei Bereiche: Einen größeren Tisch mit einigen Stühlen und eine Ecke mit Spielsachen und Kinderbüchern. Ebenfalls Spenden.

„In Handschellen Ringe zu tauschen ist wenig würdevoll“

Beim Thema Familie und Ehe kommt mir eine letzte Frage auf: Ob schon einmal jemand hier geheiratet hat? „Wir raten in der Regel davon ab, da ein Gefängnis nun nicht die ehrenvollste Institution für eine Heirat ist, schon gar nicht der Tausch der Ringe in Handschellen. Aber es ist schon mal vorgekommen. In diesem Fall müssen wir einen Standesbeamten organisieren” erläutert Frau Kirsten. Das ist gar nicht so einfach, erfahre ich, denn was das betrifft, stellen sich die meisten quer: Eine Trauung im Gefängnis sei obskur und prekär.


Was es am Ende tatsächlich braucht

Während Frau Kirstens Erklärungen plausibel erscheinen, schleichen sich an zweiter Ausführung wohl wieder die Vorurteile ein. Zugegeben, die Arbeit in und mit einem Gefängnis ist nicht für Jeden etwas. Sie erfordert vielschichtiges Denken. Andererseits ist es einen Blick hinter die medial aufgespannten Vorhänge alle Mal wert, bevor man sich den Gedankengang vom allabendlichen Programm vorgeben lässt.
Am Ausgang tausche ich meinen Besucherausweis wieder gegen mein Handy. In allein vier Stunden Abwesenheit haben sich sieben neue Nachrichten gesammelt: Freunde, Familie, Arbeitskollegen. Es ist halb eins, an einem Mittag im Februar. Kalt, aber sonnig. Erst jetzt spüre ich die Befangenheit, die der Erleichterung weicht. Wahrscheinlich gönne ich mir heute die teure Schokolade …

Info: Euch macht die Arbeit im JVA Dresden neugierig oder habt ihr bereits mit dem Gedanken gespielt? Gut für euch – denn unter www.job-mit-j.de könnt ihr euch alle Infos zu einer Ausbildung in der JVA Dresden einholen.

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