Vom täglichen Wahnsinn Ein Tag als Gerichtsreporter

Wir verbringen einen Tag als Gerichtsreporter und erleben hautnah Strafprozesse und Verurteilungen von Menschen, die oft ganz normal erscheinen.

© Lucas Böhme

„Strafe muss sein!“ – wer kennt diese alte Weisheit nicht? Doch ob Eierdieb oder Serienmörder: Das Monopol zur Aburteilung von Rechtsbrechern liegt allein beim Staat und seinen Gerichten. Wie geht es dort tatsächlich zu? Als Gerichtsreporter erlebe ich es hautnah.

Dröhnende Stille, gespanntes Warten im großen Saal des Leipziger Landgerichts – und wieder einer dieser Momente, in denen ich auf meinem Zuschauerstuhl in Gedanken versinke. Mein Blick fällt auf die Richterbank, das dunkle Holz, den knarrenden Boden. Stumme Zeugen endloser, oft nur allzu dramatischer Geschichten, die hier schon verhandelt wurden. Erinnerungen an spektakuläre Kapitalverbrechen kommen hoch: Mitja, Michelle, der Dreifachmord von Groitzsch, die Leiche aus dem Elsterbecken. Was für Menschen dieser Raum im Laufe der Jahre nicht schon hat kommen und gehen sehen. Menschen, die schreckliche Taten begangen haben. 

Und dennoch wurden sie weiterhin als Menschen behandelt, bekamen ein faires Verfahren von einem Staat, der sich selbst nicht in Abgründe hineinziehen lässt, sie anhört, keinem Henker überantwortet. Gut so. Es mag überraschen, doch zum Grübeln über derlei Fragen hat man vor Gericht mitunter viel Zeit. Denn Gericht hat oft mit Warten zu tun: Auf Prozessbeteiligte, Entscheidungen über Beweisanträge oder oder oder … Geradlinige Blitzverfahren à la Salesch fallen aus.

Doch fangen wir von vorn an. Mein Job als Gerichtsreporter besteht darin, Strafprozesse sachlich zu dokumentieren. Das geht mit dem Erhalt der Prozessliste für die Woche los: Was hört sich interessant an? Nach einer Durchsicht werden die Sachverhalte besonders spannend klingender Tatvorwürfe bei den Pressesprechern abgefragt, mit den Kollegen besprochen. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen? In politisch aufgeladenen Zeiten wie diesen steckt hier vielleicht Potenzial für einen Report. Delikte wie Mord oder Totschlag stoßen ebenso ab wie sie auf morbide Weise Neugier erwecken, müssen es aber nicht immer sein.

Denn manchmal holt man die Leser direkt bei den „kleinen“ Stories ab, wie sie das Amtsgericht täglich im Stundentakt abspult. Alltägliche Situationen, die aus dem Ruder liefen: Ein eskalierter Nachbarschaftsstreit. Ein Familienvater, der plötzlich eine Flasche auf Polizisten wirft. Ein Mann, der einen ihm Unbekannten am Hauptbahnhof wegen Nichtigkeiten attackiert. Ein ertappter Kaufhausdieb, der den Detektiv angreift. Ein Student, der sich auf Drogengeschäfte einlässt. Offenbar gibt es nichts, was es nicht gibt. Und die Täter? Fügen sich längst nicht immer in Stereotype. Es sind keine Exoten, sondern ganz normale Menschen, die auf der Straße gar nicht auffallen würden. So verschiedenartig, wie Menschen eben sind. Manchmal auch irgendwie sympathisch.

Man lernt viel vor Gericht – gerade bei den kleineren Prozessen; den Dieben, Schwarzfahrern oder Zechprellern. Es geht um Menschen, ihre Schicksale, ihre Lebenswege, die sie auf die schiefe Bahn geführt haben. Lebensglück, Wohlstand, Karriere? Keine Selbstverständlichkeit. Und selbst wenn: Schon ein kleiner Impuls kann reichen, um letztlich im Gerichtssaal zu enden. Und manchmal in der Zelle.

© Lucas Böhme

Gewissensbisse eines Mörders oder Tränen der Unschuld?

Heute stehen wieder größere Verfahren auf dem Programm. Erster Termin: Neun Uhr. Die Sitzungen sind meist vormittagslastig und können sich zum endlosen Verhandlungsmarathon ausweiten. Niemand weiß das so genau im Vorfeld. Fall eins: Ein Trio soll einen Bekannten aus Habgier ermordet, sein Auto verkauft und das Konto geplündert haben, so der Staatsanwalt. Der Clou dabei: Eine Leiche wurde nie gefunden. Ein Indizienprozess. Die Angeklagten schweigen eisern, ihre Anwälte führen eine Konfliktverteidigung mit einer Flut an Beweisanträgen. Der Prozess stockt. Nach kurzer Zeit die erste Richterberatung, Zwangspause für die Beteiligten.

 

Nervöses Hin- und Herlaufen auf dem Gerichtsflur, leise Gespräche. Immer wieder fällt mein Blick zur Anklagebank. Flankiert von Wachtmeistern, sitzen die Angeklagten neben ihren Verteidigern. Einer weint leise. Gewissensbisse eines Mörders oder Tränen der Unschuld? Ich weiß es nicht. Immer wieder frage ich mich insgeheim, bevor ich einen Gerichtssaal betrete: Was kommt da jetzt auf dich zu?

Ich erinnere mich an Mordfälle, bei denen ich die knisternde Spannung im Saal geradezu riechen konnte. Und dann führten Justizbeamte den Täter in Handschellen herein. Stille im vollbesetzten Raum. Ein Moment, wie ihn Worte kaum fassen können. Der Angeklagte: Total unauffällig. Ein Monster? So sieht er nicht aus. 

© Lucas Böhme
Irgendwann wird der Termin vertagt. Doch der Tag geht weiter: Ein älterer Herr gesteht den Missbrauch mehrerer Teenies. Ich muss schlucken, als die Details zur Sprache kommen. Die Eltern eines Opfers sitzen im Publikum, hoffen auf Einsicht oder Reue. Vergebens. Erst spät ringt sich der Mann zu einer Art Entschuldigung durch.

 

Man braucht Geduld, Konzentration und Sitzfleisch, wenn man als Gerichtsreporter unterwegs ist. Doch meist wird man belohnt – denn man wird Zeuge eines in seinen Abläufen streng reglementierten Verfahrens mit der Intensität eines Kammerspiels. 

Intellekte duellieren sich im Raum, Raffinesse und Wortgewandtheit der Prozessparteien gehören dazu. 

Spannungen, Ironie und subtile Zwischentöne zwischen Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger finden ihre Bahnen, zuweilen enden sie in heftigen Debatten. Irgendwie erinnert das an die Politik. Oft gibt es nichts zu lachen. Dann bin ich froh, wenn ich das Gericht verlasse, versuche, für mich Abstand zu gewinnen. Bis zum nächsten Prozesstermin. Trotzdem kann Gericht auch lustig sein. Ich schaue nach vorn, sehe zwei Richter, die leise kichernd miteinander tuscheln. Ich lächle innerlich. Juristen sind eben auch nur Menschen.