"Es gibt gerade nichts auf meinem Tisch, was ich gegen Leipzig eintauschen würde." Kretzsche über Wunder, Erwartungen, Messer im Mund und DHB-Machtkampf

Der SC DHfK Leipzig bescherte Stefan Kretzschmar eines der emotionalsten Highlights seiner Karriere: den Sieg über seine alte Wirkungsstätte SC Magdeburg. Im Interview spricht er über das Handballwunder, surreale Erwartungen und warum Leipzig noch nicht in der Liga mitspielen kann.

© Elmar Keil
Der SC DHfK Leipzig bescherte Stefan Kretzschmar eines der emotionalsten Highlights seiner Karriere: den Sieg über seine alte Wirkungsstätte SC Magdeburg. Im Interview spricht der Sport1-Kommentator und das DHfK-Aufsichtsratsmitglied über das Handballwunder, surreale Erwartungen und warum Leipzig noch nicht in der Liga mitspielen kann.     

Wie hast du dich beim Spiel SC DHfK Leipzig gegen SC Magdeburg gefühlt?

Na ja, es gibt so eine 1-bis-10-Skala, was die emotionalen Highlights in den letzten fünf, sechs Jahren betrifft – das war eine 11. Emotionaler geht’s nicht. Es ist irgendwie schon unvorstellbar, dass wir gegen den SC Magdeburg in einem Pflichtspiel spielen. Und jetzt ist es plötzlich soweit. Ich habe ja auch 12 Jahre bei denen gespielt und noch gearbeitet und gelebt. Dass wir tatsächlich gegen den SCM gewinnen können, das war ja in meiner Phantasie nicht vorstellbar. Wie die Dramatik des Spiels war, wie die Stimmung in der Halle war – einfach alles nur sensationell. Und da muss man sich schon mal zwicken, wenn man darüber nachdenkt und alles Revue passieren lässt. Dieses Spiel war sicherlich eines der emotionalen Highlights meines Sportlerlebens – und vielleicht sogar das Highlight mit Leipzig in den letzten Jahren. 

Schön, dass du sowas auch als nicht mehr aktiver Sportler fühlst.

Es wäre ja auch schlimm, wenn mit der aktiven Zeit das Leben vorbei wäre.
Dadurch, dass mir der Sport nach meinem Karriereende nie gefehlt hat und ich auch nie Bestrebungen hatte zurückzukehren, sucht man sich seine Erfolgserlebnisse halt woanders. Und was mich betrifft, bin ich sehr zufrieden mit dem Leben ohne den aktiven Sport. Deswegen ist es ist ein Highlight. Es interessiert mich auch nicht, dort unten auf dem Spielfeld rumspringen zu müssen. Für mich wäre das im Alter von 42 Jahren eher ein Muss. Mein Körper würde das gar nicht mehr mitmachen. Ich bin überhaupt nicht mehr in der Lage dazu, einer der besten sein zu können. Aber dabei sein zu dürfen und dann so einen Erfolg aus einer externen Position als Fan genießen zu können, ist ein tolles Gefühl. Sensationell. 

Wie waren die Reaktionen auf deinen Kommentar beim Spiel? 

Die Leute haben gemerkt, dass ich die letzten zehn Minuten nix mehr gesagt habe. Das ist auch relativ ungewöhnlich für mich, dass ich gar nichts sage. Das ist natürlich vielen aufgefallen. Was die Arbeit am Mikrofon betraf, bin ich relativ neutral – und nicht sooo emotional. Klar, in dir drinnen sieht es anders aus. Die Gestik während des Spiels war anders, die kann der Zuschauer glücklicherweise nicht sehen. Was den Kommentar betraf – ich glaube, das würde man als professionell bezeichnen. Und so war das dann in Ordnung für mich. Dass ich da plötzlich Tränen in den Augen hatte, als Leipzig auf einmal das Spiel mit einem Tor gewonnen hatte, ist ja normal. Das ist eine emotionale Geschichte, die dich dann übermannt, aber während des Spiels habe ich das – ich sage mal – professionell kommentiert.  

Wie hat es Leipzig denn geschafft, den übermächtigen SC Magdeburg zu schlagen?

© Elmar Keil
Es spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Der SCM hat nicht am Optimum gespielt. Das war kein gutes Spiel von Magdeburg. Das muss man auf der einen Seite natürlich sagen. Und auf der anderen Seite hat Prokops Mannschaft gekämpft, alles in die Waagschale geworfen, was notwendig ist, um so ein Wunder, wie ich es bezeichnen würde, überhaupt zu schaffen. Wir hatten eine gute Torhüterleistung – ohne das geht es in der ersten Liga auch gar nicht. Und wir hatten, wenn man jetzt einen Spieler herausnehmen will, diesen abgeklärten Marvin Sommer, der das sehr gut gemacht hat und kaltschnäuzig war. Für mich aber war entscheidend, dass die Mannschaft – wie auch schon beim Sieg gegen Hamburg – so dermaßen gekämpft und alles gegeben hat, dass alle in der Halle begeistert waren von dieser Truppe, die sich wirklich Mannschaft nennen darf. Jeder wächst da über sich hinaus, die Jungs stehen zusammen und kämpfen zusammen, auch als es noch mal eng wurde. Ich finde, das ist sehr beeindruckend für einen Aufsteiger – dass man so was abrufen kann gegen zwei große Mannschaften wie Hamburg und Magdeburg. 

Vorm Spiel hast du gemeint: „Es wäre vermessen zu sagen, man könne den großen SCM schlagen.“ Überhaupt warnst du immer vor einem Höhenflug und spielst ab und zu auch den Spielverderber. Ist das nötig?

Ich glaube, es ist nicht nötig, vor einem Höhenflug zu warnen. Aber man muss eben in jedem Spiel das Maximum geben, um eine Chance haben zu wollen. Die anderen Mannschaften sind einfach zu abgebrüht, die Kader sind zu gut, das Personal der anderen Teams ist extrem stark. Wir müssen immer wieder über uns hinauswachsen und immer wieder kämpfen als gäbe es kein Morgen mehr, um überhaupt eine Chance zu haben, ein Spiel zu gewinnen. Es ist notwendig, dass die Jungs das bei jedem Spieltag genau wissen. Es ist nicht so, dass wir sagen können: „Wir haben jetzt ein paar Mal gewonnen, und jetzt sind wir in dieser Liga angekommen.“ Mitspielen können wir nicht! Da sind uns andere Mannschaften überlegen. Wir müssen, übertrieben formuliert, mit dem Messer im Mund aufs Spielfeld. Wir müssen kämpfen bis zum Umfallen. Zusammenstehen als Mannschaft. Man muss nach jedem Spiel wieder neu kämpfen, selbst nach so einem Highlight wie gegen den SC Magdeburg – oder gerade nach so einem Highlight. Es ist ein Wunder, diese Mannschaft geschlagen zu haben. Es ist super fürs Selbstverstrauen, das ist den Jungs auch gegönnt, das haben sie sich auch erarbeitet. Aber dann beim nächsten Spiel geht’s wieder von Null los. Es gibt keinen Bonus nach so einem Spiel. Ganz im Gegenteil: Der Gegner nimmt uns jetzt erst Recht noch ernster. Der Höhenflug ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass man immer wieder ums Überleben kämpft, nämlich um den Klassenerhalt. Und am Ende kann ein Punkt oder sogar ein Tor den Ausschlag geben. Das muss man im Hinterkopf behalten. 

Deine Warnungen vor jedem Spiel, geht das eher in Richtung Mannschaft, Sponsoren, Verein oder Zuschauer?

Ach weißte, Sponsoren und Zuschauer dürfen träumen, was die wollen. Es ist alles erlaubt. Da ist jedem seine Fantasie gegönnt. Nur wir, die damit zu tun haben, mit der Mannschaft und dem Verein, wissen natürlich auch, was die Realität ist. Und die darf man nicht verkennen. Man darf die Erwartung nicht zu hoch schrauben. Das wäre fatal. Das Motto Klassenerhalt wird uns bis zum letzten Mark begleiten. Und da braucht man auch keine Augenwischerei zu betreiben. Es geht natürlich in Richtung Mannschaft und in Richtung Trainerteam. Aber da muss man jetzt auch nicht jeden Tag warnen. Das ist allen Beteiligten bewusst und alle verinnerlichen das auch so, wie wir das am Anfang der Saison vorgegeben haben. Dass die Zuschauer in eine Euphorie verfallen, ist ja auch schön. Auch die Sponsoren können sagen: „Mensch, das macht Spaß, das ist eine Mannschaft, die kämpft, und wer weiß, wohin die Reise geht …“ Das sollen sie gerne machen. Aber wenn das Team dann auch mal verliert und eine kalkulierte Niederlage kommt , dann soll bitte aber keiner extrem enttäuscht sein und schon vom – was weiß ich – Europapokal träumen. Das ist natürlich völlig surreal.

Du sagtest mal, ein Jahr 1. Bundesliga machst du als Gesicht und Aufsichtsrat beim DHfK Leipzig auf jeden Fall noch mit. Man merkt, dass du mit dem Herzen dabei bist. Man kann sich den DHfK Leipzig ohne dich fast nicht vorstellen.

© Bettina Kretzschmar
Ach doch … das ist vorstellbar. Wenn man sich in dieser Liga etabliert und irgendwann sogar zu einem Aushängeschild in diesem Wettbewerb wird, ist es nicht notwendig, mich weiter als Aushängeschild zu haben. Dann existiert dieser Verein alleine und kann das auch ohne Zweifel. Der Erfolg dieses Vereins beruht vorwiegend auf dem Fleiß von Karsten Günther und den sportlichen Fähigkeiten von Christian Prokop. Und na klar, die öffentliche Wahrnehmung deutschlandweit – wenn es denn eine gibt – ist häufig mit meinem Namen verbunden. Aber irgendwann geht das auch ohne. Aber dass man in der Liga bleibt und sich etabliert – dafür muss man halt hart arbeiten. Ich mache mir keine Sorgen. Mich beschäftigt es momentan auch nicht, wohin die Reise mal gehen könnte, weil ich mich in Leipzig sehr wohl fühle, mich das auch gerade sehr glücklich macht. Daher ist es auch nicht so, dass es Angebote gibt, die mich unwahrscheinlich reizen. Kurz gesagt: Es gibt gerade nichts auf meinem Tisch, was ich gegen Leipzig eintauschen würde. Deswegen stellt sich die Frage zurzeit nicht. 

Was müssen die Jungs sportlich noch lernen bzw. besser machen?

Es gibt schon noch Kleinigkeiten, wo Verbesserungspotenzial herrscht. Ich glaube, dass die Torhüterposition noch ein bisschen konstanter werden kann. Das ist eine Frage der Zeit, bis beide Torhüter ein gewisses Niveau erreicht haben. Die müssen sich auch erstmal an die Liga gewöhnen. Ich glaube auch, dass unsere zwei Verletzten noch Zeit brauchen, bis sie wieder vollständig fit und dann wiederum integriert sind. Es gibt immer Stellschrauben, die man verbessern kann, aber ich muss sagen, dass diese Mannschaft schon sehr gut in vielen Bereichen funktioniert – besser, als wir uns das erhofft hatten. Man ist nie zufrieden, das darf man auch nicht sein. Wir haben einen ehrgeizigen Trainer, wir haben ein ehrgeiziges Ziel und diese Mannschaft setzt es hervorragend um. Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich sehr stolz auf die Mannschaft, wie sie das macht und wie sie auch die Menschen in Leipzig begeistert. Das ist ja Identifikation pur, wenn man sieht, wie sich diese Mannschaft den Arsch aufreißt und dem Heimpublikum dort jedes Mal zeigt, dass sie kämpft und alles gibt. Das ist einfach nur beeindruckend. Und das macht stolz. Das zeigt einem auch, dass man die Mannschaft gut zusammengestellt hat.  

Der Füchse-Geschäftsführer und DHB-Vizepräsident Bob Hanning bezeichnet Christian Prokop als „einen deutschen Hoffnungstrainer“, dem er sehr viel zutraut. Was habt ihr beide für ein Verhältnis?

Ich habe ein respektvolles Verhältnis mit ihm. Er ist ein Macher – das muss man respektieren, was er in Berlin auf die Beine gestellt hat. Das ist herausragend, das hätten nicht viele geschafft. Wir haben uns vor der Verpflichtung von Christian auch darüber unterhalten. Er war auch einer, der gesagt hat: „Kretzsche, den könnt ihr nach Leipzig holen. Das ist ein Guter.“ Ich weiß, dass er eine gute Meinung von Christian hat und da haben wir uns im Vornherein auch darüber ausgetauscht. 

Was sagst du zum Machtkampf beim DHB? Wie siehst du das?

© Camera 4
Für mich ist das kein Machtkampf mehr. Die Fronten sind ja geklärt. Ende September 2015 war der Kongress. Andreas Michelmann wurde zum Präsidenten gewählt. Damit sind die Wogen auch geglättet. Die Sache ist vorbei. Da ist es sinnlos, noch weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Das hat der Sportart sowieso nicht geholfen. Die Situation ist klar. 

Es kommt einem wenig professionell vor, was beim DHB abgelaufen ist. Woran liegt denn das?

Wie immer im Leben: wenn man persönliche Befindlichkeiten über die Sache stellt. Und dann gibt’s Profilneurosen. Es ist immer alles menschlich ausgemacht. Das hat mit Professionalität nicht viel zu tun – wie du schon sagst. Aber man muss auch sagen, vor zehn, fünfzehn Jahren war der DHB auch nicht professioneller als jetzt. Ich glaube, dass wir in der Vermarktung schon Schritte nach vorne machen und dass wir auch in der Außendarstellung besser geworden sind. 

Das sind Streitereien zwischen Menschen, die Probleme miteinander haben. Aber da geht es eigentlich nie um die Sache, den Handball an sich oder den Handballbund. Das sind einfach menschliche Konflikte, die eine Rolle spielen. Da kann und will ich mir kein Urteil erlauben, weil ich meine eigenen Erfahrungen mit den jeweiligen Menschen mache und die danach beurteile. Ich habe ich zu den jeweiligen Protagonisten (Bob Hanning und Heiner Brand, Anmerk.d.Red.) in diesem Streit mein eigenes Verhältnis.

Sehr diplomatisch …

Es geht hier um den Handball und seine Darstellung. Da ist es einfach blöd, wenn man sich in die eigene Suppe spuckt. Das macht ja keinen Sinn. Und am Ende profitiert niemand davon, der im Handball unterwegs ist und der im Handball was bewegen möchte.

Es mutet merkwürdig an. Handball ist so ein großer Sport. Im Fußball wäre das unvorstellbar, dass da auch bspw. Interna ausgeplaudert werden und dass sich die Funktionäre öffentlich angreifen.

Na ja, der Fußball ist ja auch steril. Jedes Interview wird vorher abgenommen und es wird vom Verein drüber gelesen. Das hat dann auch nichts mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Da ist, sagen wir mal, so eine Kontroverse wesentlich sympathischer als dieses aalglatte Image beim Fußball. Man kann sich auch schon mal streiten – das ist mir wesentlich lieber als wenn immer alles abgebügelt wird. Das ist auch eine Persönlichkeiten-Frage – und sowas fordert man ja auch immer auf der einen Seite.

Deine große Leidenschaft ist das Golfen. Könntest du dir vorstellen, den Handball komplett hinter dir zu lassen und dich nur noch darauf zu konzentrieren?

Nein! Es ist ein guter Ausgleich. Es macht mir Spaß. Aber der Zug, wo man das beruflich machen könnte, ist abgefahren. Da bin ich zu alt. Selbst für Golf bin ich schon zu alt (lacht). Das macht mir einfach nur Spaß. Der Spaßfaktor ist der entscheidende. Da ist der Ehrgeiz nicht so groß, dass professionell machen zu wollen. Dafür bin ich mit dem Handball auch zu verbunden.