1. Mai: Volksfest und Ausnahmezustand in Berlin urbanite war den ganzen Tag vor Ort in Kreuzberg

Kampftag der Arbeiterklasse, Wirtschaftskrise, Basketbalspiel, Mayday-Parade, Demos – der Cocktail zum 1. Mai in Berlin schien unappetitlicher als je zuvor.

Auf keinen Tag des Jahres – vielleicht außer der Bundestagswahl – wird die Hauptstadt ungewisser und gespannter gewartet haben als auf den 1. Mai. Angeheizt durch die derzeitige Wirtschaftskrise erwarteten Polizei und Senat die schwersten Unruhen seit Jahren bei den traditionellen Revolutionären 1. Mai Demonstrationen im Stadtteil Kreuzberg. Darüber hinaus erwuchsen der Berliner Polizei aus der Mayday-Parade in Mitte, dem Final-Four-Halbfinale der europäischen Basketball-Champions-League in der O2-Arena, Friedrichshain, und einer angekündigten NPD-Demonstration weitere Belastungen, sodass insgesamt 6.000 Polizisten im Einsatz, darunter auch Verstärkung aus Sachsen-Anhalt, eingeplant waren, um den Frieden zu wahren.

Während nun in Dortmund rund 400 Neonazis eine Gewerkschaftskundgebung überfielen, gelang es zunächst in Berlin-Köpenick einer friedlichen Menge dem NPD-Familienfest samt Demonstration vor der Bundeszentrale der Partei entschieden entgegen zu treten. Etwa 270 NPD-Anhängern standen so knapp tausend Gegendemonstranten gegenüber. Zuvor hatten allerdings linke Aktivsten, zur Überraschung der Polizei, den S-Bahnhof des Stadtteils mit einer Sitzblockade lahmgelegt, um die Anreise der Rechten zu verhindern. Nach der gewaltsamen Räumung der Station gehen allerdings, vermutlich durch Brandstiftung, zwei verlassene Lauben in Gleisnähe in Flammen auf.

 
© Christoph Paul

Der Fokus der Polizei richtete sich aber auf den SO36 Kiez in Kreuzberg (vom Kottbusser Tor zum Mariannenplatz), wo neben den Demonstrationen auch das „Myfest“ stattfindet: Ein offiziell linkes Straßenfest gegen Verdrängung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Faschismus, unterstützt u.a. vom Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Bündnis90/Die Grünen), der EU und der Bundesregierung. Über 30.000 Menschen feiern hier friedlich mit unzähligen Ständen und Bühnen und setzen ein positives Zeichen. Als die erste der beiden Revolutionärer 1. Mai Demonstrationen um 13 Uhr friedfertig und mit wenigen hundert Protestierern vom Oranienplatz aus durch den Kiez, und somit durch das Fest, zieht, wird sie von den meisten Teilnehmern einfach ignoriert. Danach geht das Fest weiter, immer mehr Menschen strömen in den Kiez.

Kurz vor 15 Uhr fragt ein Betrunkener an der U-Bahn-Station, ab wann man denn hier randalieren dürfe. Die Demonstration unter dem Banner „Kapitalismus ist Krieg und Krise“ , die bereits von einem kleinen schwarzen Block angeführt wurde, endete bereits kurz nach 14 Uhr vor einer Bühne am Kottbusser Tor. Hier wird zunächst friedlich weiter gefeiert, allerdings versammeln sich immer mehr Linksautonome an dem Platz, argwöhnig aber gelassen beäugt von denjenigen, für die die Krise schon lange Alltag ist: Das Kottbusser Tor ist auch an diesem Tag Berlins größter Obdachenlosentreffpunkt.

 
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Kurz vor 18 Uhr verlässt der schwarze Block den Platz runter in die Reichenberger Straße gen Südosten. Kurz vor der Kreuzung Reichenberger Str./Mariannenstraße hat sich hier die Polizei positioniert, um den Zug kontrollieren zu können. Dabei blockiert sie allerdings nur die Straße und lässt die Gehwege für Schaulustige, aber auch für Demonstranten, frei. In der nächsten halben Stunde wächst die Menge weiter an, während vorne die Pressefotografen das Demonstrationsbanner – es ist das der 13-Uhr-Demo – fotografieren. Ein Mann lässt sein Kind vor dem stehenden Zug und der Presse Seilspringen. Die Demonstrationsleitung fordert via Lautsprecher etwaige getarnte Zivilbeamte auf, den Zug zu verlassen. Wie wir später erfahren, decken sich zum selben Zeitpunkt die Protestierer weiter hinten bereits mit Steinen aus dem Gehweg ein, erste Scheiben gehen zu Bruch.

 
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Gegen 18:40 beginnt die Polizei damit, die Kreuzung freizuräumen, der Zug wird nach links in die Mariannenstraße abbiegen. Kurz vor 19 Uhr setzt sich die Demonstration in Bewegung. An ihrer Spitze eine gut zweihundert Vermummte, dahinter der Demonstrationsleiterwagen mit Lautsprechern und dann nochmal über tausend Vermummte und schließlich weitere Demonstranten. Aus der Gruppe vor ihnen fliegen dann auch auf der Kreuzung die ersten Flaschen und Steine auf die Polizisten und Zuschauermenge. Die Demo wird immer schneller, die zunächst ruhige Spitze zieht an einer von der Polizei abgesicherten Tankstelle vorbei auf die Skalitzer. Auf dieser vierspurigen, unüberschaubaren Straße eskaliert gegen 19:05 Uhr schlagartig die Gewalt: Die Polizisten versuchen hektisch die Straße Richtung Osten zu verbarrikadieren, da fliegen bereits größer Steinmengen und Flaschen. Anscheinend war das vom schwarzen Block genaustens geplant: Kleinere Gruppen von Vermummten stoßen mit Geschossen bewaffnet von der Kreuzung zum Zug, die Polizei wirkt arg desorientiert, setzt sofort Tränengas ein, ein kaum geschütztes Einsatzfahrzeug wird angegriffen. Später wird die Polizeigewerkschaft von einem „Mordanschlag“ auf die darin sitzenden zwei Beamten sprechen. Seit Jahren hatte es nicht mehr eine derart breite Attacke bereits tagsüber gegeben.

 
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Die Demonstration wird in die Mariannenstraße und somit in das SO36 gedrängt. Hier kommt es zu einer paradoxen Situation: Der Schwarze Block und seine Mitdemonstranten ziehen friedfertig durch das Myfest, das sie wie schon bereits die 13-Uhr-Demonstration schlichtweg ignoriert. Vorbei an Essständen und Konzertbühnen geht es weiter zum Mariannenplatz, dann biegt man rechts in Moskauer Straße. Hier erweist sich der Bürgersteig als Steinereservoir, das sofort ausgebig genutzt wird. Die Polizei sichert weiter die Zugspitze. An der Eisenbahnstraße geht es nach rechts zum Lausitzerplatz, hier stoppt es. Die Demonstrationsleitung ruft immer wieder ihre linke Seite auf, sich zusammenzuziehen.

Auf dem weitläufigen Platz verteilt sich die Menge schnell und bildete eine breite aber lose Front, die Polizei sperrt mit die Lausitzerstraße mit mehreren Reihen ab und lässt den Demonstrationsleiter mehrmals einberufen. Es ist 19:51 Uhr. Vereinzelt fliegen Steine. Die Route wird nun von der Leitung verkürzt, gleichzeitig fordert sie von dem wieder hinzugekommenen Lautsprecherwagen die Polizei dazu auf, sich zurückzuziehen. Alles drängt in die enge Lausitzerstraße gen Süden. Ein Antifa-Aktivist schwenkt von einem Hausdach die Aktions-Fahne. An der Kreuzung mit der Wiener Straße stoppt der Zug um 20:17 Uhr erneut, die Polizei braucht sehr lange um sich zu ordnen. Steine fliegen auf die Neue Feuerwache an der Kreuzung. Der Zug soll auf die vierspurige Wiener gelenkt werden. Dann geht alles ziemlich schnell, die Demonstrationsspitze marschiert plötzlich los. Die Polizei kann nur die linke Straßenseite in etwa sichern. Die Gehwege sind von Zuschauern zugestellt. Die Demonstration gerät außer Kontrolle, immer wieder wird das Tempo forciert, Unmengen an Steinen und Flaschen fliegen. Kleinere gewaltbereite Gruppen stoßen immer wieder vom Rand überraschend zum Zug. Die Polizei muss durch die Zuschauer stürmen, springt blind durch anrainende Restaurants und greift einzelne Randalierer raus. Innerhalb weniger Minuten hat die Demonstrationsspitze über die Wiener und Skalitzer Straße das Kottbusser Tor erreicht und hinter ihr tobt auf dem Abschnitt bis zur Neuen Feuerwache immer noch der Straßenkampf.

 
© Christoph Paui
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Am Kottbusser Tor, einem ovalen Platz mit 100 bis 150m Durchmesser, durchschnitten von einer U-Bahn-Hochtrasse, schlägt die angekündigte Abschlusskundgebung in offenen Kampf um. Mit viel Mühe und vor allem jeder Menge Tränengas kann die Polizei ein Durchbrechen der Autonomen auf die westliche Skalitzer Straße verhindern. Allerdings macht sie sich auch immer wieder das Leben selber schwer, indem sie nur eine Straßenseite absichert. Weitere Einsatzkräfte bilden Absicherungen an der Reichenberger Straße im Nordwesten und Südosten des Platzes, während im Norden zunächst das Myfest auf der Adalbertstraße die Demo begrenzt. Die breite Kottbusser Straße gen Süden wird zwar abseits des Platzes blockiert, bleibt aber unbehelligt. Hierhin werden nun Verletzte und Festgenommene getragen bzw. geschleift und von hier stoßen die ausgeruhten Einsatztrupps hinzu und wechseln sich ab. Der Vorplatz der Admiralsstraße im Süden wird erst später von einem Ring der Polizei gesperrt, kurzzeitig wird dieser auch auf den Anfang der Kottbusser Straße ausgedehnt. Die Beamten lassen zwar weitere Leute, vor allem Schaulustige, in den Kreis aber niemanden heraus. Überhaupt ist der ganze Platz hauptsächlich von Passanten zugestellt. Der U-Bahnhof Kottbusser Tor innerhalb des Rings wird merkwürdigerweise erst gegen 22 Uhr geschlossen.

 
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Der Block befindet sich seit 21 Uhr vor allem an der Nordecke des Platzes zwischen einem Supermarkt, einem Café und der Bühne in der Adalbertstraße. Es fliegen Steine und Molotovcocktails, ein Baustellenampel wird umgerissen, ein Feuer entzündet. Der Polizei gelingt es langsam mit mehreren Hundertschaften und Tränengas einen Keil in die randalierende Menge zu treiben, dabei zieht sie sich immer wieder zurück und drückt dann wieder nach vorne. Langsam beruhigt sich auch die östliche Skalitzer Straße. Während eine spontan gebildete Sitzblockade auf der Westseite des Platzes zunächst unbehelligt bleibt, gelingt es zahlreichen Einsatzkräften mehrere Randalierer in den Treppenaufgang hoch zur U-Bahn-Trasse zu drängen. Die Bahnen halten mittlerweile auf Polizeiorder schon nicht mehr an der Haltestelle. Immer wieder müssen Beamte zu zehnt verletzte Kollegen oder festgenommene Randalierer heraustragen. Dabei trauen sie sich kaum an den schwarzen Block, viel mehr werden Betrunkene oder eher schmächtigere Jugendliche gefasst. In einigen angrenzenden Hausaufgängen werden Feuer gelegt. Barrikaden werden in der Mariannenstraße errichtet.

 
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Dennoch: Die Gewalt ebbt langsam aber sicher ab. Die Polizei kann ihre Routine ausspielen und organisiert sich immer besser. Die Autonomen werden getrennt und eingekesselt. Ein Passant erleidet ganz in der Nähe vor unseren Augen einen Herzinfarkt. Das sich leerende Kottbusser Tor ist übersäht von Scherben und Steinen. Kurz nach 1 Uhr morgens ist die Lage endgültig unter Kontrolle. Die Veranstalter sprachen vom Lautsprecherwagen aus von 10.000 Teilnehmern, während zahlreiche Beobachter 5.000 angeben. Unsere Einschätzung von noch viel mehr Demonstranten wird später bestätigt: 15.000 Menschen hat die Berliner Polizei allein bei dieser Demo gezählt.

Jetzt um 13 Uhr am Folgetag präsentiert die Polizei ihre Statistiken: 289 Festnahmen, 273 verletzte Polizisten; etwas weniger als doppelt so viele wie noch 2008 (162/103). Die Einsatzleitung muss sich vorhalten lassen, die Gewalt unterschätzt zu haben. Beinahe planlos wirkte sie sobald der Zug auf große Straßen oder Plätze geriet. Fragwürdig bleibt auch, ob man die Randalierenden immer wieder in das friedliche Myfest hätte abdrängen sollen. Hier hat man ganz darauf vertraut, dass sich der schwarze Block hier in der Menge zurückhalten würde. Eine im Rückblick sehr wagemutige dennoch aber glückliche Einschätzung. Die Provokationen gingen allerdings eindeutig vom schwarzen Block aus. Im Zeichen der Krise hat der 1. Mai in Berlin eine neue Stufe der Gewalt erreicht.

 
 
 
© Christoph Paui

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Fotos (10): Christoph Paul
 
Siehe Dir die Demonstration Revolutionärer 1. Mai in Groß an