Oberbürgermeister Burkhard Jung im großen Interview OBM Burkhard Jung: Leipzigs Flüchtlingssituation und Gentrifizierungsgefahr

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung im großen Interview über seine Highlights 2015, seinen Kampf gegen Rassismus, die Flüchtlingssituation, die Entwicklung Leipzigs, die Bedeutung RB Leipzigs für die Stadt und den DFB-Skandal zur Fußball-WM 2006.

© Stadt Leipzig

Burkhard Jung ist seit 2006 Oberbürgermeister von Leipzig. Im großen Interview spricht der 57-Jährige mit urbanite über:
• seine Highlights des Jahres 2015
• seinen „beinahe schon penetranten“ Kampf gegen Rassismus
• die Flüchtlingssituation und die größte Herausforderung daran
• die Entwicklung Leipzigs und die Gefahr von Gentrifizierung
• RB Leipzig und den DFB-Skandal zur WM 2006

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Was war Ihr Highlight 2015? 
Mein Highlight war Platz 3 im Städteranking in der Studie des WeltWirtschaftsInstituts HWW und der Bank Berenberg. Das ist DIE angesehenste Wirtschaftsstandortstudie Deutschlands. Platz 3 als wirtschaftsstärkste Zukunftsstadt hinter München und Berlin. Bewertet wurde insbesondere: Wirtschaftswachstum, Produktivität, Arbeitsplatzentwicklung und demografische Entwicklung. Diese Platzierung ist eine Sensation, wenn man überlegt, wo wir herkommen. Als ich OB wurde, waren wir irgendwo bei Platz 60; 2013 hatten wir uns dann schon auf Platz 12 vorgearbeitet.  

Die größte Herausforderung in diesem Jahr war selbstverständlich der Umgang mit der Flüchtlingsfrage. Dabei war ein persönlicher Höhepunkt für mich der 12. Januar 2015, als 35.000 bis 40.000 Menschen auf den Straßen am Waldplatz deutlich gezeigt haben, dass diese Stadt bunt und vielfältig bleibt und wir den Ewiggestrigen nicht die Straße überlassen.

Sie setzen sich gegen Rassismus ein und wurden deswegen auch schon mehrfach bedroht. Wie gehen Sie damit um?
Man hat sich leider schon fast daran gewöhnt, dass der Ton von ganz rechts außen sehr roh und brutal drohend geworden ist. Aber es zeigt mir – und das sage ich nicht, weil es gut klingt – wie wichtig es ist, dagegenzuhalten. Wir können doch nicht zulassen, dass gegen die Menschenwürde und Ausgrenzungen rassistisch argumentiert und eine Meinungsvielfalt niedergebrüllt wird. Wir stehen doch für ein anderes Land. Wir stehen für ein Land, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht, in dem Menschlichkeit nicht nur auf dem Papier existiert, in dem die Würde des Menschen, gleich welcher Herkunft, Religion, welchen Geschlechts, unantastbar ist. Und deshalb versuche ich mit ganzer Kraft und Ehrgeiz immer wieder, beinah schon penetrant, zu überzeugen. 

Hat sich die fremdenfeindliche Stimmung und die Art und Weise verschärft, oder hat das in vielen Menschen schon die ganze Zeit geschlummert und es ist dieses Jahr erst an die Oberfläche gedrungen?
Die fremdenfeindliche Stimmung, Vorurteile und Ängste hat es immer gegeben. Und es hat auch schon immer eine nationalistische Gruppe in unserer Gesellschaft gegeben – wie in allen Gesellschaften. Neu ist in der Tat, dass man sich über soziale Netzwerke organisiert und dass man eine Sprache benutzt, die sehr verräterisch auf nationalsozialistische Unkultur verweist. Neu ist auch, dass Menschen, die so denken, aufgrund ihrer Vernetzung meinen, sie seien eine Mehrheit und eine Gruppe, die einen großen Teil des Volkes repräsentiert und sich deswegen auch ungeschützter und enthemmter artikuliert. Das ist seit Pegida Dresden eine neue Erscheinung. 

Sehen Sie denn ein Ende der Montags„demos“ von Legida?
Ich sehe mit Genugtuung, dass die Zahl derer, die sich montags sammelt, und wie ich meine gegen die Menschlichkeit demonstriert, nicht größer wird – sondern eher kleiner. Und ich sehe mit großer Freude, wie viele, insbesondere auch junge Menschen dieser Stadt, sich jeden Montag auch dagegen positionieren. Der letzte Montag (9.11.2015, Anm. d. Red.) war für mich ein schönes Beispiel, dass die Bürger- und Zivilgesellschaft in Leipzig ganz klar woanders steht. Das Gedenken am 9. November am ehemaligen Platz der Synagoge war sehr beeindruckend. Die 2.000 jungen Menschen, die sich rund um den Richard-Wagner-Platz eingefunden haben und deutlich gemacht haben: Das ist nicht das Land, das wir wollen, was dort auf dem Wagner-Platz postuliert wird. Das schafft schon Mut und Zuversicht. 

© No Legida

Aber man kann noch nicht wirklich absehen, wie lange das noch so weitergeht.
Nein. Ich glaube, dass hier etwas aufgebrochen ist, was geschlummert hat. Ich glaube, dass jenseits der Radikalisierung dieser Gruppe natürlich Ängste und Sorgen in der Bevölkerung da sind und dass die Flüchtlingsfrage in der Tat spaltet. Wir sind gut beraten, wenn wir informieren und wir dafür werben zuzuhören. Denn die große Aufgabe liegt erst noch vor uns: nämlich die Integration. 

Was erwarten Sie von den Leipzigern bei diesem Thema?
Erst einmal stelle ich fest, dass sich unglaublich viele im Ehrenamt engagieren. In den Erstaufnahmeeinrichtungen finden sich sehr viele Menschen ein, die spenden, die helfen, die Unterricht für Asylkinder geben wollen, die Behördengänge mit erledigen … Das Patenprogramm läuft hervorragend – wir haben bereits 500 Familienpaten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, einem Flüchtling zur Seite zu stehen, den Behördenweg zu begleiten usw. Das ist erst mal die Ausgangsbasis. Und ich glaube, dass zivilgesellschaftlich in Leipzig zumindest eine große Bereitschaft besteht, sich auf diese neue Situation einzulassen. 

Sie selbst sagen, die größte Herausforderung wird die Integration sein. Das wird aber auch über Jahre dauern. 
Das wird Jahre dauern.
Das allerwichtigste ist der Arbeitsmarkt. Es muss uns gelingen, unbürokratischer, schneller und aktiver Menschen, nach dem Abgleich ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Ausbildung und nach einem Deutschkurs, Arbeit zu vermitteln. Gottlob ist die Konjunktur stabil; es werden Arbeitskräfte gebraucht. Und im Handwerk sind 63 % der Unternehmen bereit, sofort einen Flüchtling einzustellen, weil sie die Bedarfe sehen und weil Fachkräfte fehlen. Aber es ist ein langer Weg!
Das zweite ist: Kinder brauchen, um in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden, Kindergärten und Schulen. Ein großes Thema ist das Erlernen der Sprache. Deutsch für Ausländer als Zweitsprache ist enorm wichtig. Dass es genügend Lehrerinnen und Lehrer dafür gibt, da steht der Freistaat in der Pflicht. Ich hoffe, dass das gelingt.
Und drittens: In Sportvereinen muss die Bereitschaft gezeigt werden: Du bist uns willkommen. Das Schöne am Sport ist ja, dass er eine ideale Integrationsplattform ist. Da wird nicht mehr geguckt, ob jemand dunkelhäutig ist, sondern ob der einen guten Pass in die Tiefe des Raums spielt oder den Ball vergurkt (lacht). Je mehr Menschen im Sport in den Vereinen und im öffentlichen Leben dabei sind, umso leichter gelingt es.
Ich will es mal zuspitzen: Zusammen schwitzen und gewinnen – oder verlieren. Das führt zusammen!

Thema Entwicklung Leipzigs: Sie sagen selbst, die Entwicklung ist phänomenal. Den Leipzig-Hype sehen viele hier Lebende allerdings eher kritisch, weil Zuzug auch bedeutet, dass die Mieten steigen sowie die Gefahr der Gentrifizierung und dass das, was Leipzig ausmacht (wie Subkultur) verschwindet.
Ja, alles hat zwei Seiten. Klar ist, wir können uns in der Nische nicht einrichten und glauben, das bleibt alles immer so. Wenn wir wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen wollen – und das müssen wir spätestens 2020, wenn der Solidarpakt ausläuft – dann brauchen wir wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitsplätze und Wachstum. Und damit verbunden sind auch leider andere urbane Folgen wie Verdichtung des Raums, des Verkehrs, des Wohnraums – und damit einher geht natürlich auch das Thema steigende Mieten und steigende Lebenshaltungskosten.
Unsere Aufgabe als Stadtverwaltung liegt darin zu versuchen, diese Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das nicht kippt, dass in einem Stadtteil möglichst unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Bildungsgrades, unterschiedlicher Ethnien zusammenleben und die Verdrängung – die definitiv passieren wird –möglichst in einem Rahmen zu halten, der erträglich bleibt. Ich glaube, das ist ganz gut gelungen in der Südvorstadt, in Connewitz und in Plagwitz. Die Karl-Heine-Straße ist so ein Bereich, der förmlich explodiert in Hinblick auf die Entwicklung. Dann zieht die Karawane auch ein Stück weit immer weiter. Die Georg-Schwarz-Straße wurde vorletztes Jahr entdeckt, im inneren Osten werden neue Viertel entdeckt. Gerade Studierende bewegen sich dann auch dorthin, wo die Mieten günstiger sind, erzeugen dort wiederum ein anderes kreatives Klima, was dann in der Folge wieder neue Effekte auslöst. Aber wir müssenschon aufpassen.  

Wir haben versucht, mit unserem wohnungspolitischen Konzept in enger Abstimmung mit der Wohnungswirtschaft sowohl mit der eigenen Wohnungsbaugesellschaft wie den Genossenschaften und den privaten Akteuren zumindest ein Commitment zu erzielen, wie man Einfluss auf diese Entwicklung nehmen kann. Das geht nur bedingt. Am Ende wird es dann auch vor allem darum gehen, wie uns sozialer Wohnungsbau gelingt. 

Was wäre der Einfluss?
Beispielsweise mit dem Verein HausHalten, der dafür sorgt, dass auch derjenige ohne Besitz mit kleinem Geld zu Eigentum kommt, eine Hausgemeinschaft bildet und peu à peu das Haus übernimmt. Das Thema Wächterhaus ist ein Leipzig-Beispiel, das europaweit Schule gemacht hat. Es gibt ganz neue Formen der Ich-Genossenschaft, bei der wir auch Finanzierungsmodelle mithilfe der Sparkasse entwickelt haben, um Eigentumsbildung auch für Geringverdienende möglich zu machen.

Es gibt ein ganzes Paket von Möglichkeiten. Ein paar Beispiele sind:

  • Thema Bebauungsplan: Rahmenbedingungen für diesen Bebauungsplanung, was soll wie wo möglichst nicht entstehen.
  • Eigentumsbildung.
  • Genossenschaftliche Formen des Wohnens unterstützen. Kreative Räume und auch Freiräume zu belassen. Ganz gezielt strategisch Grundstücke sichern, um soziale Infrastrukturen möglich zu machen wie Kitas, Schule, Sport und Kultur.

Dennoch weiß ich heute, dass wir in einigen Jahren ein soziales Wohnungsbauprogramm in Leipzig brauchen werden, wenn das Wachstum so rasant weitergeht. Wenn uns die Flüchtlingsthematik in dieser Taktzahl weiter erreicht, erzeugt das noch einmal einen größeren Zug auf den Wohnungsmarkt und dann braucht es in der Tat Anreize des Staates für Investoren und Bauherren, Wohnraum so gefördert zu bekommen, dass sie ihn günstig auf dem Wohnungsmarkt anbieten können. Das werden wir ansonsten nicht beherrschen. Und wir müssen verhindern, dass Leipzig eine Entwicklung nimmt wie die Städte München, Stuttgart, Wiesbaden oder Frankfurt, wo es eine Verdrängung über die Jahrzehnte gegeben hat, aus den inneren Räumen in die Peripherie bis in die Landkreise hinein. Und dass Menschen, die in der Stadt arbeiten, 1 ½ Stunden mit dem Bus fahren müssen. 

Im Jahr 2016 haben sie 10-Jähriges als OBM. Wenn Sie zurückblicken, was war für Sie der größte Erfolg, was die größte Niederlage?
Den größten Erfolg müssen andere benennen. Ich kann ein schönstes Erlebnis erzählen. Das war, als ich am 9. Oktober 2009 vom Balkon der Oper den Vorhang beiseite schob, auf den Platz schaute und sah, dass sich wirklich 100.000 Menschen versammelten, um an den 9. Oktober 1989 zu gedenken. Das war ein sehr glücklicher Moment, weil nicht abzusehen war, ob es gelingt, dass die Menschen wieder mit Kerze in der Hand, friedlich, respektvoll, sich einander Geschichten erzählend durch die Nacht gehen und die Freiheit feiern.  
Eine Niederlage, das will ich nicht verschweigen, war in der Tat mein Versuch, 49% Anteile der Stadtwerke zu verkaufen und ein Bürgerbegehren dies unmöglich machte. Ich bin bis heute davon überzeugt, das wäre gut und richtig gewesen, weil uns die Investitionskraft, die wir dadurch gewonnen hätten, wesentlich schneller in der Kita- und Schulfrage geholfen hätte. Aber die Bevölkerung machte deutlich, dass die Leipziger ihre Stadtwerke zu 100% behalten wollen. Da habe ich gesagt: Ok, ich habe es kapiert, das Thema fasse ich nicht mehr an (lacht).

Sie sind großer Sportfan.
Ja, ich habe mein Leben lang gerne Sport gemacht.

Wie wichtig ist ein Verein wie RB Leipzig für die Stadt?
Es ist eine große mittelständische Wirtschaftsansiedlung. Einige 1.000 Arbeitsplätze hängen an einem Bundesligaverein, vor allem wenn es die 1. Bundesliga wird – vielleicht ja in der Saison 2016/2017, da hoffe ich sehr drauf (lacht).
Zum anderen ist es ein hohes Identifikationspotenzial für eine Stadt und für eine Region. Ich will es mal metaphorisch sagen: Wenn Leipzig in der 1. Bundesliga erfolgreich Fußball spielt, dann ist diese Stadt auch wirtschaftlich, historisch und gesellschaftlich in der Bundesrepublik Deutschland in der 1. Bundesliga wirklich angekommen. Das wäre schon ein Wurf.
Außerdem ist es natürlich einfach großartig: In der Gründungsstadt des Deutschen Fußball-Bundes muss 1. Liga gespielt werden. Und da müssen die Bayern geputzt werden (lacht). 

© GEPApictures / RB Leipzig

Können Sie die Kritik an RB Leipzig verstehen?
Ach ja … Fußballfans sind, wie sie sind. Und wer einmal Lokist ist, der bleibt wahrscheinlich auch Lokist. Aber ich glaube, das ist eine Frage der Zeit. Wie hat Dietrich Mateschitz zu mir gesagt: „Ach Tradition, Herr Jung, in 10, 15 Jahren sind wir auch Tradition.“
Ich finde es scheinheilig, mit dem Finger auf das große Geld zu zeigen, wo andere Mannschaften selbstverständlich seit Jahrzehnten mit dem großen Sponsor auf der Brust spielen und im Hintergrund Wirtschaftsunternehmen ihre Interessen natürlich über den Fußball stellen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Bayer Leverkusen und RB Leipzig. 

Die Fußball-WM 2006 war auch fürLeipzig ein Sommermärchen. Einige Spiele wurden in Leipzig ausgetragen. Als die Holländer hier waren, war die Stadt komplett in orange getränkt.
Und jeder Mitarbeiter der Stadtreinigung wurde umarmt, weil die Holländer dachten, er sei einer von ihnen (lacht). 

Inwiefern fällt durch den DFB-Skandal ein Schatten auf diese Zeit?
Die Fußballspiele und die Stimmung bleiben. Aber wenn sich bestätigt, dass man offenbar in diesem hochkommerziellen Sportbereich wie Fußball und Olympische Spiele nur korruptiv zum Ziele kommt, dann ist das ein Schlag ins Gesicht für alle Sportfans. 

Vervollständigen Sie bitte folgende Sätze:


Leipzig ist …
 die schönste Halbmillionenstadt Deutschlands.

Leipzig wird … eine Stadt, wo jeder hin muss, sonst hat er was in seinem Leben verpasst. 

Die Leipziger müssen … weiter offen, gastfreundlich und neugierig bleiben.

Ich wünsche mir … dass wir wie vor 100 Jahren eine der zentralen europäischen Metropolen werden, die geistig, wirtschaftlich und kulturell diesen europäischen Gedanken der Weltoffenheit weitertragen.