Konjunktur für eine Leiche Theater-Rezension: Der Besuch der alten Dame

Unter der Regie von Nuran David Calis feierte das Schauspiel Leipzig am 17.10.2020 die Premiere des Theater-Komödien-Klassikers „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahr 1956.

Unter der Regie von Nuran David Calis feierte das Schauspiel Leipzig am 17.10.2020 die Premiere des  Theater-Komödien-Klassikers  „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahr 1956.

© Rolf Arnold
Claire Zachanassian (Bettina Schmidt), die reichste Frau der Welt, kehrt nach Jahrzehnten zurück an den Ort, an dem sie aufwuchs: Güllen. Das Städtchen ist heruntergekommen, die Wirtschaft bankrott, die Bürger verarmt – und sie erhoffen sich von der vermögenden Tochter
dieser Stadt eine Finanzspritze. In der Tat will Zachanassian helfen. Sie bietet eine Milliarde, unter einer Bedingung: Sie fordert, dass ihre Jugendliebe Alfred Ill (Roman Kanonik), der sie 40 Jahre zuvor schwanger hat sitzen lassen, eine Falschaussage vor Gericht machte und sie als Hure diffamierte, getötet wird. „Güllen für einen Mord – Konjunktur für eine Leiche“ verspricht die alte Dame und kauft sich damit Gerechtigkeit.

„Mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung“

Die Güllener lehnen dieses Angebot ab. „Noch sind wir hier in Europa“, antwortet der Bürgermeister (gespielt von Dirk Lange), man habe außerdem seine „abendländischen Prinzipien“. Diese Sätze, geschrieben nur wenige Jahre nach dem Holocaust, waren damals paradox und sind es angesichts eines Europas der Abschottung, der geschlossenen Grenzen, eines brennenden Flüchtlings-Lagers in Moria und unzähliger ertrunkener Menschen im Mittelmeer noch immer. Doch schon bald vergessen die Güllener ihre angeblichen Prinzipien (wie in der Realität wohl auch, möchte man meinen). Sie werden gierig, wenden sich von Ill ab und wollen, dass er sich selbst umbringt. Doch diesen Gefallen tut er ihnen nicht.

© Rolf Arnold

„Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell“

Das Bühnenbild ist aufwendig und darüber hinaus durch die Plexiglasfront sogar Spuck- und damit Covid-„sicher“. Die Leistungen der Schauspielenden sind durchweg grandios. Calis’ Inszenierung katapultiert die Komödie in das Jahr 2020, wo die Güllener kaum noch persönlich miteinander sprechen, sondern per Chat oder Videocall kommunizieren. Die Einwohner haben etwas Proletenhaftes, machen ständig Selfies und leisten sich vom noch nicht erhaltenen Kopfgeld bereits Schönheitsoperationen und teure Anschaffungen auf Pump. Es gelingt Calis, diesen Klassiker mithilfe überzogener Stilmittel und zeitgenössischer Themen in unsere uferlose Zeit der Börsencrashs, Multimilliarden-Dollar Unternehmen, Kapitalismus, Ausbeutung und Bereicherung, Oberflächlichkeit und Digitalisierung zu transportieren.

Zu Beginn der Inszenierung misslingt die Gratwanderung des Komödiantischen an einigen Stellen zwar, fast wirkt es als verfolge der Regisseur das Motto: Mehr ist Mehr. Die Komik leidet unter discoartigem Szenenwechsel und lautem Geschrei. Der Beigeschmack des bitterbösen Spiels, das die Güllener treiben, geht durch diesen nicht immer zündenden Versuch einer Farce zwischenzeitig unter. Doch das Stück schaukelt sich zunehmend hoch, am Ende gelingt die postmoderne Groteske und gipfelt in der Mordszene, in welcher die Polizei in Anzügen der Spurensicherung einen Raum mit Folie auskleidet, um den Mord vorzubereiten und zerhackte Leichenteile schließlich über die blutverschmierte Bühne geschleppt und aus Eimern in einen Sarg gekippt werden. 

© Rolf Arnold

Insgesamt ist das Stück eine gelungene Persiflage unserer Gesellschaft und der Beweis, dass „Der Besuch der alten Dame“ ein zeitloses Stück ist, das heute noch genauso funktioniert wie in den 50er Jahren, wenn nicht gar besser. Denn wir leben in einer Welt, in der man sich Gerechtigkeit kaufen kann – oder zugespitzt formuliert, überhaupt nur Menschen mit genug Geld, Gerechtigkeit erfahren können.

weitere Termine: 12.12.20 | 19.12.20 | 20.12.20 | 27.12.20

www.schauspiel-leipzig.de