"Wir wollten nie die Stimme einer Generation sein" Tocotronic-Sänger von Lowtzow: Ein Privatwitz, der Generationen prägte

Tocotronic haben mit „Das Rote Album“ ihre elfte Studioplatte herausgebracht und sich dieses Mal dem Thema Liebe gewidmet. Wir sprachen mit Sänger Dirk von Lowtzow u.a. über schrullige Outfits und welchen Kampf der 44-Jährige täglich austragen muss.

© Michael Petersohn
Tocotronic haben mit „Das Rote Album“ ihre elfte Studioplatte herausgebracht und sich dieses Mal dem Thema Liebe gewidmet. Wir sprachen mit Sänger Dirk von Lowtzow u.a. über schrullige Outfits, dass die Band eigentlich nie die Stimme einer Generation sein wollte, dass Denken in den meisten Fällen keine ganz so schlechte Sache ist und welchen Kampf der 44-Jährige täglich austragen muss.



Wenn man so durch die Musikmagazine und das Feuilleton blättert, liest man, dass alle doch ziemlich überrascht waren, dass ihr ein ganzes Album dem Thema Liebe widmet. Was sagt dir das?
Mich hat es ein bisschen gewundert, dass sie so überrascht waren. Ok, es ist schon neu, dass wir das in dieser Konsequenz mit einem Thema durchhalten, so eine Art Konzeptalbum ist für uns neu gewesen. Aber natürlich hatten wir in der Vergangenheit auch schon Liebeslieder. Insofern war es jetzt von uns auch nicht so eine Überraschung. Vielleicht wenn wir etwas zum Thema Quantenphysik oder Mikrobiologie gemacht hätten (lacht) – das wäre schon etwas exzentrischer. Aber in diesem Fall … Auch auf den letzten Alben gab es ja schon immer mal Liebeslieder. Es ist jetzt überhaupt im Popbereich ein nicht wirklich exzentrisches Thema. Aber ja, vielleicht haben die Leute das von uns nicht erwartet – umso besser. Dann ist uns eine Überraschung gelungen. 

Was wäre denn deine Theorie, warum das so ist?


Ihr habt wahrscheinlich ein Image, bei dem das wohl nicht so reinpasst. Ihr werdet ja auch oft beschrieben als verkopfte Intellektuelle. Deswegen würde Quantenphysik vielleicht doch ganz gut passen.
Ich weiß nicht so ganz genau, woher dieses Image kommt. Ich finde das auch ein bisschen übertrieben, ehrlich gesagt. Wir haben uns selbst ja nie als Intellektuelle bezeichnet oder uns so gesehen. Und verkopft finde ich an sich auch nicht so ein schönes Wort … das hat auch sowas leicht Ressentimenthaftes, so als könnte man irgendwie zu viel denken – und das kann man doch eigentlich nicht. In den meisten Fällen ist das keine ganz so schlechte Sache (lacht). Das hilft doch in allen Lebenslagen.
 
Euer letztes Album „Wie wir leben wollen“ thematisierte das Älterwerden und den körperlichen Zerfall. Nun geht es um die Liebe. Das sind ja schon sehr große Themen. Denkst du viel über so etwas nach?
Als wir das Album vorbereiteten und sich so rauskristallisierte, dass wir ein Album über Liebe machen, haben wir sehr, sehr viel darüber nachgedacht. Man kann vor allem auch nicht verhindern, dass man sehr nah an sich heran kommt. Deswegen ist es vielleicht auch ein wesentlich persönlicheres Album geworden als die anderen. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Und dann kommt man sehr schnell zur Frage: Was ist persönlich und deshalb interessant und wo fängt es an, den privaten Bereich zu streifen, was ich jetzt nicht so interessant finde. Man will ja auch niemanden mit seinem privaten Kram belästigen.
 
Obwohl genau das ja viele interessiert. 

Ja, aber da wird es dann eben so boulevardesk. Und das wollten wir natürlich gerne vermeiden. Insofern hält das Thema viele Fallgruben und Stolpersteine bereit. Deswegen muss man auch viel darüber nachdenken, obwohl man es vielleicht gar nicht will. Aber, wie wir ja schon festgestellt haben, denken hilft ja auch manchmal weiter (lacht).
 
Ist es bei dem Thema nicht schwierig, dass es nicht kitschig wird?!
Ja, genau. Wobei man dann noch definieren müsste, was Kitsch ist und ob Kitsch immer schlecht ist. Es gibt ja auch Sachen, die als kitschig gelten und trotzdem ganz reizvoll sind. Das war genau das Spannende daran. 
Wir haben festgestellt, dass man bei dem Thema ganz gut daran tut, wegzustreichen. Das war eigentlich das Beste an dem Album: Es wurde irgendwie immer weniger. Die Texte wurden immer kürzer und immer weniger und dadurch vielleicht auch präziser. Und das war, wenn man das so sagen kann, was uns bei dem Thema am wichtigsten war: dass man eine gewisse Präzision einhält, so dass es nicht laberig wird.
 
Über euch wird gesagt, ihr habt eine Generation geprägt – sowohl im Denken, als auch modisch mit den Trainingsjacken, der Frisur usw. Ist euch das bewusst?

© Michael Petersohn
Das ist schon ein Thema, was uns sehr beschäftigt hat, vor allem in den 90er Jahren, als wir mit der Band angefangen haben. Zwischen 1995 und 1997, als wir die ersten drei Alben veröffentlichten, wurde sehr oft über uns geschrieben, dass wir die Stimme einer Generation seien. Auch mit unserem Outfit, mit dieser Art Banduniform – Trainingsjacke und diese engen bedruckten Werbe-T-Shirts, dass das so einen Look definiert hat. Das hat uns damals sehr beschäftigt. Als wir damit angefangen hatten, war das eigentlich ein Privatwitz, den wir für uns gemacht haben. Das ist ja auch ein Outfit, was sehr schrullig und eigenwillig ist. Wir hätten nie gedacht, dass man damit irgendwie modische Impulse geben könnte (lacht).
Sondern wir dachten: Das sieht total bescheuert aus und deswegen finden wir das gut und machen das. Dass wir dann so einen Einfluss damit ausüben, war für uns total neu. Und das hat uns auch nicht nur stolz gemacht, weil das eben auch eine Last ist. Wir wollten nie die Stimme einer Generation sein.


Auf der anderen Seite ist es natürlich lustig, weil das das Prinzip Popmusik ist. Ich finde das an sich auch nicht schlecht. Das ist ja auch etwas, was man von sich selber kennt als Pop- oder Rockmusikliebhaber. Man wird modisch von anderen Bands beeinflusst, man hat das Gefühl, diese Leute da sprechen nur für mich oder die sind irgendwie genau wie ich. Das ist ja ein typisches Prinzip, warum Popmusik Popmusik ist und keine andere Kunstform. Und insofern kommt mir das auch normal vor. Aber damals hat uns das sehr verwirrt, weil es für uns einfach ganz neu war und wir noch klein waren. Damit muss man auch erst mal umgehen lernen.
 
Habt ihr euch bei diesem Klamottending nicht kaputtgelacht? Plötzlich laufen 100.000e so rum wie ihr.
Na ja, das wird im Nachhinein auch gerne ein bisschen übertrieben. Wir waren immer eine Nischenband und es war immer eine begrenzte Anzahl an Menschen, die man erreicht hat. Wie man ja auch an unseren Plattenverkäufen ablesen kann (lacht). Also wie 100.000e sieht das jetzt nicht aus. Es hatte bestimmt einen gewissen Einfluss oder so. Aber wie gesagt, das wechselte immer wieder: Manchmal hat man sich darüber kaputtgelacht und manchmal fand man das aber auch komisch, weil damals niemand damit gerechnet hatte.
Ich denke, das war ein Thema in unserer Anfangszeit bis in die Nullerjahre. Dann hat sich der Fokus sehr geändert – gerade diese Outfitfrage trat in den Hintergrund. Wir hatten 1999 dann auch diese Banduniform abgelegt und uns in neutrales Schwarz und Jeans gekleidet – ok, ist vielleicht auch nicht das alleroriginellste (lacht). Das war aber auch wichtig, ansonsten wäre man irgendwann dazu verdammt gewesen oder so ein bisschen zur Karikatur seiner selbst geworden.
 
Es gibt ja verschiedene Arten von Liebe: Liebe zur Familie, Selbstliebe, Liebe zum Partner, aber auch Nächstenliebe. Euer Song „Solidarität” weist auf die Situation der Flüchtlinge in Deutschland hin. Was denkst du, wie es mit der Solidarität gerade steht?
Es gibt so viele verschiedene Facetten der Liebe. Und als wir das Stück „Solidarität“ geschrieben hatten, dachte ich mir, das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt der Liebe. Das Wort klingt vielleicht ein bisschen altmodisch. Es kommt ja eigentlich auch aus der Arbeiterbewegung und ist dann über die Jahre so ein bisschen staatstragender geworden, wenn ich da z.B. an Solidaritätszuschlag denke. Der Begriff hat sehr viel von seiner ursprünglichen kämpferischen Bedeutungsebene verloren. Und wir fanden es schön, uns dieses Wort wieder rückanzueignen und einfach mal wieder auszustellen. Solidarität könnte vielleicht so etwas sein, wie die politische Ausformung von Liebe oder – christlich ausgedrückt – Nächstenliebe.
Wir sind von unserem Background her jetzt nicht so christlich geprägt, wie man vielleicht erahnen kann … (lacht). Dieser Begriff Solidität kommt ja eher aus dem linken Spektrum oder aus dem Arbeitskampfvokabular und ist uns natürlich viel näher. Aber im Grunde genommen ist es ja dasselbe wie Empathie und Mitgefühl. Und natürlich ist das heutzutage wichtiger denn je. 


Das Stück habe ich kurz nach den pogromartigen Ausschreitungen bei dem Flüchtlingsheim in Berlin Hellersdorf geschrieben, wo ich mich fatal an die Zeiten Anfang der 90er in Rostock und Hoyerswerda erinnert fühlte. Es ist schon 2 ½ Jahre her, dass das Stück geschrieben wurde. Das war ja alles noch vor PEGIDA, vor den neuesten rassistischen Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Flüchtlinge. Deshalb ist es vielleicht ein wichtiges Lied – ich weiß es nicht.

Ich finde, gerade jetzt ist es wichtiger denn je, dass sich auch Bands klar positionieren. Das fand in den letzten Jahren viel zu wenig statt. Viele haben sich auch Kritik eingefangen, wenn sie es mal gemacht haben.
Wir haben vor einigen Jahren begonnen, mit PRO ASYL zusammenzuarbeiten. Wir haben vor unseren Konzerten einen Imagefilm von der Organisation gezeigt und an unserem Merch-Stand Infomaterial ausliegen. Uns war es ganz enorm wichtig, diese Organisation zu unterstützen. Wir haben auch kleinere Soli-Konzerte für Refugee Strike und ähnliche Organisationen gegeben. Mir liegt das Thema sehr am Herzen. Ich finde es ganz gut, wenn sich in der Hinsicht was tut.
 
Künstler und Bands haben ja auch einen sehr großen Einfluss – vielleicht dann nicht nur modisch …
Wir kommen ursprünglich ja aus dieser Punk-Hardcore-Szene. Wir waren auch immer sehr eng mit der linken Subkultur und linken politischen Bewegungen. Wir haben das über die ganze Bandgeschichte hindurch gemacht und spielen Benefiz- und Soli-Veranstaltungen in diesem Spektrum. Für uns ist das eigentlich ganz selbstverständlich, weil das einfach auch unsere Prägung ist und woher wir kommen.
Aber selbst wenn die Leute jetzt erst damit anfangen – das ist ja ganz egal. Es ist einfach gut, dass jetzt was passiert.
 
Auf eurer Website steht: „Rot für die Liebe, Rot für die Revolution.“ Ist denn eine Revolution nötig?
(Überlegt und seufzt) Das ist eine sehr schwierige Frage. Für uns war es interessant, diese zwei Begriffe zusammenzudenken, weil: Wenn die Liebe eintritt oder einen trifft – wir haben ja auch diesen Satz „Liebe wird ein Ereignis sein“ –, hat sie für den persönlichen Bereich eines Menschen durchaus ein revolutionäres Moment. Es ist ja etwas sehr Gewaltiges, teilweise auch Gewalttätiges oder auch Gefährliches. Und darum ging es uns eigentlich: Die zwei Begriffe zusammenzudenken. Dass man Liebe in ihrer Ereignishaftigkeit als etwas nimmt, was etwas Umwälzerisches hat oder eben etwas Revolutionäres.
Ich finde das Doppeldeutige daran so interessant – wie es so oft bei uns ist. Da fängt es an, mich zu interessieren. Wenn es so ganz stark ins Parolenhafte gehen würde, wie „Hier muss jetzt die Revolution kommen“, das würde mich dann weniger interessieren.
Ich habe einmal gelesen, dass es bei den chassidischen Juden einen Spruch vom kommenden Reich des Friedens gibt, der besagt: Alles wird sein wie jetzt – nur ein klein wenig anders. Vielleicht wäre das die ideale Revolution, zumal als Revolution der Liebe. Alles muss nur ein kleines bisschen verrückt werden.
 
Du bist 44 Jahre alt. Kannst du mir sagen, wie man es schafft, als Erwachsener nicht spießig zu werden und so zu werden, wie man nie sein wollte?
Das ist natürlich ein täglicher Kampf (lacht). Wir kommen da vielleicht auch wieder auf den Punkt des Denkens zurück. Dieses Denken hält einen schon auch jung. Wenn man sich selbst und seine Situation reflektiert und auch fähig ist, die zu kritisieren und man nicht bequem wird, kann das der Schlüssel sein. Man sollte nicht in eine Selbstzufriedenheit verfallen. Ich meine dabei, Denken im Sinne von zweifeln, hadern oder hart mit sich ins Gericht gehen. Und dann wird man es vielleicht schaffen, so eine Selbstzufriedenheit zu vermeiden. Diese Selbstzufriedenheit ist ja eigentlich das, was dazu führt, dass Leute dann irgendwie spießig werden. Denn die haben ja dann aufgehört zu denken oder auch ihre Lebenssituation, bestimmte gesellschaftliche Modelle oder Konventionen zu hinterfragen. Und ich glaube, wenn man das permanent tut, dann kann man dieser Verspießerung oder Verbürgerlichung entgehen. Aber klar, das liegt ja auch immer noch im Auge des Betrachters, wer oder was spießig ist. Wenn jemand 22 Jahre alt ist, wird der vielleicht trotzdem sagen: Whoa, Tocotronic sind aber alt und spießig (lacht). Das ist auch das Privileg der jüngeren Generation – das soll ja auch so sein. 


Du selbst würdest jetzt nicht sagen, dass dich das Spießbürgertum gekriegt hat?

Ja, ich hoffe nicht. Man kann das von sich ja schlecht behaupten. Weil oft sind ja die Leute, die von sich behaupten, nicht spießig zu sein, die Schlimmsten (lacht). Es gibt ja auch verschiedene Ausformungen von Spießertum. So eine betonte Lässigkeit oder betonte Unbürgerlichkeit hat ja auch wieder was wahnsinnig Spießiges an sich (lacht). Im Grunde ist es die Frage: Wie kann man in Würde altern? Wenn man das genau wüsste, dann würden das viel mehr Leute auch so tun (lacht). 

Man kennt das doch: Es gibt Leute, die so tun, als wären sie niemals erwachsen geworden, die so einem Jugendwahn erlegen sind oder so eine übertriebene Lässigkeit an den Tag legen – das hat ja nun auch was wahnsinnig Peinliches. Insofern, auch das ist ein schmaler Grat (lacht).


Hoffen wir, dass dir das nicht passieren wird …
Ja, wer weiß, wer weiß – es ist noch nicht aller Tage Abend (lacht).

Tocotronic treten am 24. Oktober 2015 in der Columbiahalle auf.