"Jetzt trifft es uns!" Wem gehört die Stadt? TV-Club sucht neue Bleibe

„Leipzig 416“ nennt oder schimpft sich das derzeit größte innerstädtische Entwicklungsprojekt, das nicht allen Beteiligten zusätzlichen Raum und vielversprechende Entwicklungschancen bietet.

Eine gute Frage und eine berechtigte zugleich, die sich aufdrängt, wenn man einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Leipziger Norden wirft. Denn mit dem Verkauf des ehemaligen Preußischen Freiladebahnhofs an die CG-Gruppe entsteht in der Nähe des Zentrums ein Stadtteil, der nicht allen Beteiligten zusätzlichen Raum und vielversprechende Entwicklungschancen bietet.

„Leipzig 416“ nennt oder schimpft sich das derzeit größte innerstädtische Entwicklungsprojekt, das mit einer Größe von über 20 Hektar, je nach Betrachter Fluch oder Segen bedeuten kann. Seit Anfang 2016 ist der Kaufvertrag für das innenstadtnahe Areal unter Dach und Fach. „Die angestrebte Revitalisierung soll das zum Teil brachliegende Gewerbegrundstück in ein zukunftsweisendes, lebendiges und urban gemischtes Stadtquartier umwandeln“, heißt es im Projektplan der CG-Gruppe. Darin wird auch versprochen, dass „der geplante Mix aus Wohn- und kulturellen Nutzungen, kleinteiligem Gewerbe und Einzelhandel sowie Gastronomie baukulturell bedeutsame Einzeldenkmale integrieren“ möchte. Eines dieser Einzeldenkmale ist der ehemalige Verladebahnhof, der aufgrund seiner kulturhistorischen Relevanz erhalten werden muss und in dem seit vielen Jahren der TV-Club beherbergt ist. Bislang waren die großzügigen Räumlichkeiten im alten Lokschuppen wie gemacht für den Studentenclub der Tierproduzenten und Veterinärmediziner. Neben verschiedenen Tanzflächen und Barbereich finden im hinteren Teil Getränkelager, kleine Werkstätten und Proberäume Platz; Räume, die an Wochenenden vermietet werden, um das Vereinsleben der Clubmitglieder zu finanzieren. Doch Paddeln, Clubfahrten oder gemeinsame Grillabende könnten ebenso wie die legendären Donnerstagspartys bald der Vergangenheit angehören. Denn während das Bauprojekt „Leipzig 416“ auf der einen Seite dringend benötigten Raum für neue Wohnflächen, Schulen und Kindertagesstätten schafft, raubt es Kulturträgern wie dem So & So und dem TV-Club ihre Existenzgrundlage.

„Wir suchen eine neue Bleibe!“

Ein halbes Jahrhundert könnte der TV-Club 2020 alt werden, doch ob und wo der runde Geburtstag feierlich zelebriert werden kann, schwebt noch in den Diskosternen. Stattdessen steht der Club aktuell vor der Frage: ausharren oder gehen? Da der Briefkasten der Clubis bislang mit keinem Kündigungsschreiben gefüttert wurde (Stand: 22.8.2018), hoffen die Mitglieder, das Gebäude frühestens Ende 2019 räumen zu müssen. „Womöglich bietet uns die CG-Gruppe auch an zu bleiben; eine Option, die uns allerdings vor enorme organisatorische Probleme stellen würde. Wir müssten nicht nur unsere Lärm- und Brandschutzmaßnahmen überarbeiten, sondern auch mit deutlich weniger Parkflächen und einem Fluchtweg als Zufahrtsfläche sowie wesentlich sensibleren Nachbarn auskommen. Der Club würde sich künftig direkt neben einem Schulgelände befinden. Da ist Ärger vorprogrammiert.“ Deshalb sind die Betreiber des TV-Clubs rund um Vorstandsvorsitzenden Clemens Netzer sowohl mit der Stadt Leipzig als auch mit dem Bauträger in Gesprächen, um einen neuen Standort ausfindig zu machen. Denn inwieweit ein Nachtclub, der vor allem mit großzügigem Freisitz punktet, in einem verkehrsberuhigten Wohnviertel auf lange Sicht integriert werden soll, ist fraglich. „Eine Umfrage aus dem letzten Jahr ergab, dass unser Freisitz die beliebteste Anlaufstelle unter TV-Club-Gängern ist“, verrät uns Clemens. Nun ist das Alleinstellungsmerkmal gleichzeitig das Sorgenkind. Zwar sieht die Planung des neuen Stadtteils „Leipzig 416“ vor, den ehemaligen Lokschuppen als Kulturfläche beizubehalten; da Kultur aber ein dehnbarer Begriff ist, gibt dieses Versprechen den Clubmitgliedern nur wenig Planungssicherheit. „Wir sind schon einmal aus ähnlichen Gründen umgezogen und da der Umbau des derzeitigen Objekts dem Aufwand eines Umzugs gleichkommen würde, wird es wohl auf einen Ortswechsel hinauslaufen.“ 

 

Etwas anders fällt der Entschluss der Betreiber des So & So aus, die sich einen Rausschmiss nicht gefallen lassen wollen. Kürzlich gaben sie auf ihrer Homepage bekannt: „Wir möchten bleiben!“ Vor allem, weil sich Stadt, Architekten und Nachbarschaftsforum für einen Verbleib ausgesprochen hatten. Das nur wenige Meter vom TV-Club entfernte Kulturzentrum, das Proberäume, Musikschule und ein Flüchtlingsprojekt beheimatet, profitiert im Gegensatz zum Studentenclub nicht davon, in einem denkmalgeschützten Bauwerk beherbergt zu sein. Dementsprechend würde es dem Erdboden gleichgemacht. Doch der Mietvertrag des So & So konnte aktuell, dank viel politischem Engagement und medialer Hilferufe, zumindest um weitere drei Monate bis Ende des Jahres verlängert werden. 

Ob Studentenclub oder Kulturzentrum: Am Ende steht die Existenz beider Einrichtungen auf dem Spiel. Weder der Kampf um den Verbleib noch die Suche nach einer neuen Location sind in einer Stadt, die sich als Kultur- und Studentenstadt ausgibt, aber keine einheitlichen Räume für alle Lebensarten und -stile bereithält, ein Zuckerschlecken. Auf Kosten von Schulen, Kindertagesstätten, Kunst und Kultur werden immer weiter Einwohner nach Leipzig gelockt, für die nicht genügend Lebensraum bereitsteht. „Jetzt trifft es eben uns“, konstatiert Clemens. „Aber wir geben nicht auf und werden auch in dieser Welt unseren Platz finden!“

Suche Bleibe! Wer dem TV-Club alternative Räume anbieten kann, wende sich an saustark@tv-club-leipzig.de

© Anne Gahlbeck