Tim Lehmann im Interview

Tim Lehmann über seine Facebook-Seite Ordnungsamt Machteburg, sein Urteil und was er eigentlich erreichen möchte.

Tim „Zeitfixierer“ Lehmann betreibt seit dem 06.06.2014 die Facebook-Seite „Ordnungsamt Machteburg“. Binnen weniger Tage folgten mehr als 1.000 Menschen den Posts der Seite, die anfangs noch „Ordnungsamt Magdeburg“ hieß. Über die Seite meldete sich eine versprengte Gruppe von Ordnungsamts-Mitarbeitern und verkündete, von nun an mehr Bürgernähe zu praktizieren. Satire nennt das Tim Lehmann, Amtsanmaßung finden die Stadtväter und klagten ihn an. Am 16.07.2014 wurde in einem Eilverfahren das Urteil zugunsten des Klägers und gegen Tim Lehmann gefällt. Bei einem Verstoß gegen die Auflagen des Gerichts muss der Betreiber der Facebook-Seite ein Bußgeld von 250.000 Euro zahlen oder ersatzweise sechs Monate Haft antreten. Tim Lehmann trägt zudem die Prozesskosten.

urbanite: Was sagst du zu dem Urteil, Tim?

Tim Lehmann: Wer auf den 2. Blick nicht erkennt, dass es sich um Satire handelt, der ist Opfer der miserablen Bildungspolitik. Ich erwäge in Berufung zu gehen und werde mich mit meinem Anwalt beraten. Das ist erst der Anfang, ich habe nichts zu verlieren.

urbanite: Tim, was war der Anlass, diese Seite zu gründen? Für viele kam das eher plötzlich. Gab es einen Auslöser?

Tim Lehmann: Ja, genau. Der Anlass war eine Veranstaltung in der Aerosol Arena (ehemaliges Industriegelände in Rothensee). Diese nannte sich „Tanzgebiet im Randgebiet.“. Dort traten mehrere Künstler des überregional bekannten Labels „3000°“ auf. Diese verkündeten am Freitag vor Pfingsten über ihren Facebook-Account, dass sie in Magdeburg nur bis morgens um 5 Uhr spielen könnten, weil das Ordnungsamt die Sperrstundenverordnung durchsetzt. Das warf ein ganz schlechtes Licht auf Magdeburg und war für mich der Anlass, diese Seite zu machen. Die Ursachen sind viel komplexer und liegen viel länger zurück.

urbanite: Du machst Fotos von Elektro-Parties, die auch bei uns auf urbanite.net veröffentlicht werden. Seit wann bis du auf solchen Partys unterwegs?

Tim Lehmann: Seit über 10 Jahren. Fotos mache ich seit 2006.

urbanite: Gab es da auch andere Dinge, die dir im Umgang der Stadt mit den Veranstaltern nicht gefallen haben?

Tim Lehmann: Auf jeden Fall. Es gibt so viele Sachen. Veranstaltungen werden kurzfristig abgesagt oder das Ordnungsamt kommt morgens um 5 und sagt: Es ist Schluss, ihr dürft nicht mehr weiter machen. Das ist doch gerade in irgendwelchen „Bruchbuden“ weit außerhalb Unsinn.


urbanite: Wie waren die Reaktionen? 

Tim Lehmann: Ich habe von so vielen Veranstaltern Zuschriften bekommen, die mich unterstützen. Die Einstellung von Herrn Trümper scheint zu sein, keine oder nur ganz bestimmte Konzerte in der Stadt zu dulden. Da verstehe ich nicht, wie man sich als Kulturhauptstadt bewerben kann. Das ist eine kulturfeindliche Politik. Alle Veranstalter haben schlechte Erfahrungen gemacht, aber natürlich auch gute.

urbanite: Inwiefern?

Tim Lehmann: Das ist personenabhängig. Viele hoffen, dass Mitarbeiter soundso die Sache bearbeitet, weil man mit dem reden kann und bloß nicht der andere, der immer allen einen reindrückt. Das geht so nicht. Deswegen forderte ich eine Liste mit für alle gültigen Auflagen, nach der sich alle Veranstalter richten und ihre Locations dementsprechend anpassen bzw. umbauen können.

urbanite: Hast Du weitere Beispiele für so ein Einschreiten der Stadt?

Tim Lehmann: Ich darf es nicht sagen. Das ist das Problem. Ich könnte ganz viele Geschichten erzählen, aber die Veranstalter sagen zu mir: Tim, halte bitte die Füße still. Es herrscht ein Klima der Angst in Magdeburg.

urbanite: Was soll sich ändern?

Tim Lehmann: Warum kann die Stadt nicht erst einmal prinzipiell „alles“ zulassen und erst, falls es wirklich Probleme gibt, Verbote aussprechen? Die Veranstalter verkommen zu Bittstellern, das kann nicht wahr sein. Das ist nicht im Sinne der Bürger, das ist nicht im Sinne der Demokratie.

urbanite: Auch in Halle gibt es eine Sperrstunde.

Tim Lehmann: In Leipzig auch. Sie wird dort nur nicht durchgesetzt oder es kann ganz leicht eine Ausnahmegenehmigung erlangt werden. Ich kenne auch den Sinn der Sperrstunde nicht. Vielleicht hat das eine Bewandtnis, wenn ein Laden 24 Stunden geöffnet hat, dass da mal die Küche gereinigt werden muss, das mag sein. Aber nicht in einem Club, der beim Veranstaltungsbeginn um 22 Uhr morgens um 5 gerade einmal sieben Stunden offen hat. Das soll doch mal jemand vom Ordnungsamt erklären. Ich bin mal gespannt, ob die das wissen.

urbanite: Muss man denn eigentlich bis nach 5 Uhr morgens feiern?

Tim Lehmann: Muss man nicht. Aber warum sollte es einem verboten werden? Wer lange arbeitet und vielleicht erst um 3 Uhr in den Club kommt, der muss schon um 5 Uhr wieder gehen. Mit welchem Recht darf mir irgendjemand vorschreiben, dass ich dann aufhören muss zu feiern? Man muss sich da auch gar nicht rechtfertigen. Es ist einfach ein Unding, dass im Jahr 2014 vorgeschrieben wird, wie lange man seiner Freizeitbeschäftigung nachzugehen hat. Das ist eine Anmaßung, die abgeschafft gehört. Zumal man ab 6 Uhr wieder weiterfeiern darf. Das ist doch hirnrissig!

urbanite: Warum wählst du denn diesen Weg für deinen Protest? Der Spruch „Keine Sperrstunde“ hätte doch super auf die Plakate zur Kommunalwahl im Mai gepasst.

Tim Lehmann: Weil ich mit dieser Art von Protest mehr Aufsehen errege. Ich wohne ja nicht in Magdeburg, ich bin nur gerne da. In die Lokalpolitik will ich mich nicht einmischen.

urbanite: Und warum wendest du dich nicht an einen Stadtrat?

Tim Lehmann: Das können Bürger machen, die in Magdeburg wohnen. Ich hab dort ja nicht mal Wahlrecht.

urbanite: Wie lange wirst du die Seite betreiben?

Tim Lehmann: Schluss ist, wenn ich keine Lust mehr habe oder wenn ich feststelle, dass es keinen mehr interessiert, dass sich da einer aufregt. Aber bislang sind die Meinungen positiv. Es haben sogar Leute Geld überwiesen, um mich zu unterstützen.

urbanite: Gibt es negative Kommentare?

Tim Lehmann: Ja, aber stichhaltige Argumente konnte mir auch noch niemand anbieten. Es sind meist Kinder, die mich nachts mit irgendwelchen SMS nerven. Da muss man durch, wenn man seine Nummer online veröffentlicht. Mich hat jemand aus Gommern angerufen, den ich nicht kenne. Er fand das gar nicht gut, dass ich den Trümper so auf den Arm nehme und ich meinte, dass er da durch müsse. Und dann haben wir uns eine Dreiviertelstunde unterhalten, mit gegensätzlichen Meinungen, haben uns gegenseitig ausreden lassen. Das fand ich cool.

urbanite: Wieviel Zeit investierst Du darin?

Tim Lehmann: Das kann ich nicht sagen. Ich arbeite in einem kreativen Beruf und sitze den ganzen Tag am Rechner oder habe das Handy dabei.

urbanite: Du antwortest auf Post meist sehr ausführlich und gibst detaillierte Antworten und auch Posts von dir. Macht das nicht müde?

Tim Lehmann: Wenn, dann schlaf ich halt. Aber ich will und würde gern genauso behandelt werden von meinem Gegenüber und vor allen Dingen von einer Behörde. Ich wünsche mir, dass man so mit Bürgern umgeht. So soll es sein!

urbanite: Willst Du noch was loswerden?

Tim Lehmann: Mir ist wichtig, dass rumkommt, dass es eine scheiß Stimmung in der Stadt gibt. Und dies ist leider schon sehr lange so. Ich würde gern alle an einem Tisch haben. Veranstalter, das Ordnungsamt, den Bürgermeister, den Stadtrat, die Medien. Und alle sollen ehrlich sein und nicht irgendwelchen Bullshit erzählen. Mit ehrlichen Aussagen kann ich umgehen.
Ich glaube aber, dass das nicht nicht passieren wird, es herrschen nämlich nicht unbedingt Solidarität und Harmonie in der Magdeburger Veranstalter-Szene, jeder verfolgt auch wirtschaftliche Interessen, was ich gut nachvollziehen kann. Fast alle sind verunsichert und es gibt Befürchtungen, in den Fokus des Ordnungsamtes zu geraten und noch mehr Auflagen erfüllen zu müssen, die so weit gehen können, dass es sich nicht mehr lohnt den Laden wirtschaftlich zu beitreiben. Das ist die Situation in Magdeburg. Alle sind irgendwie eingeschüchtert, niemand traut sich etwas zu sagen. Und es geht hier auch nicht nur darum, dass eine handvoll junger Leute bis ultimo feiern. 

Stellungnahme ORDNUNGSAMT:

Sperrstunden, Genehmigungen, Verordnungen – was hat es mit der Sperrstunde auf sich und was muss man tun, um Veranstaltungen genehmigt zu bekommen. urbanite fragte nach, Holger Harnisch vom Fachbereich Bürgerservice und Ordnung der Stadt Magdeburg antwortete:

urbanite: Herr Harnisch, was hat das mit der Sperrstunde eigentlich auf sich?

Herr Hanisch: Die Sperrstunde gilt vor allem im Gaststättenbetrieb von 5 bis 6 Uhr. Sie ist nicht identisch für Party-Veranstaltungen. Solche genehmigen wir in der Regel bis 5 Uhr. Das ist ein guter Kompromiss zwischen den Veranstaltern und den Anwohnern und wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Nur sehr wenige Veranstalter haben ein Problem damit, um 5 Uhr die Party zu beenden. 


urbanite: Gibt es Ausnahmen?

Herr Hanisch: Ausnahmen sind möglich, aber wo macht man das fest? Die einen bekommen dann eine Ausnahmegenehmigung und andere nicht? Es ist möglich, aber schwer umsetzbar. Der Punkt, dass die Sperrstunde nicht zeitgemäß sei, ist übrigens sehr kurz gegriffen. Das Wohl der Anwohner ändert sich auch durch flexiblere Arbeitszeiten nicht. Die jetzige Kritik ist zudem die erste Kritik seit Jahren.  In den letzten Jahren wurde das System nicht kritisiert, sondern akzeptiert. 


urbanite: Warum erhalten Veranstalter manchmal keine Genehmigung und müssen kurzfristig ihre Veranstaltungen absagen?

Herr Hanisch: Es liegt oft daran, dass der Veranstalter mit Anträgen säumig ist. Er ist auch in der Pflicht, Anträge rechtzeitig zu stellen. Man kann Genehmigungen ja nicht ins Blaue hinein vergeben. Wenn Anträge fehlen, hat man keine Entscheidungsgrundlage. 


urbanite: Kann sich das Ordnungsamt eine eigene Facebook-Seite vorstellen?

Herr Hanisch: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Wir sind jetzt schon im Internet präsent und online zu erreichen. 

Stellungnahme VERANSTALTER:

urbanite hat bei Veranstaltern nachgefragt, was diese von den Aktionen gegen das Ordnungsamt halten. Nur einer war bereit, Auskunft zu geben. Martin Hummelt ist Inhaber der Agentur „freshpepper“ und organisiert unter anderem die „Firmenstaffel“ oder das Job- und Recruitingevent „hierbleiben!“ in Magdeburg.

Er sagt: „Schade, dass sich kein weiterer Veranstalter äußern möchte. Ich kann die Reaktion der Stadt absolut nachvollziehen. Dennoch glaube ich ganz unabhängig von der Sperrstunden-Diskussion, dass es in Bezug auf Vielfalt und Kreativität in unserer Kulturlandschaft viel verstecktes Potenzial gibt und Stadt und zum Beispiel Veranstalter enger zusammen rücken müssen, um ein breites und attraktives Angebot für alle Zielgruppen in Magdeburg zu ermöglichen.“

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