
Wer beim Titel des Buches jetzt Angst bekommen hat, kann sich schnell wieder beruhigen. Die Innenstadt ist natürlich noch da. Doch Leipzig ist nicht gerade bekannt für seine vielen historischen Altbauten im Stadtzentrum. Weniger als 40 teils bereits rekonstruierte Gebäude lassen sich in die Zeit vor 1860 datieren. Dazu zählen beispielsweise die Nikolaikirche, das Alte Rathaus oder Barthels Hof. Mehr als 900 Gebäude sind allerdings seitdem abgerissen worden. Sie fielen dabei häufiger dem modernen Städtebau zum Opfer als dem Krieg. Sebastian Ringel stellt 150 dieser verloren gegangenen Bauten in seinem Buch vor. Dabei ist die Jahreszahl 1860 als historischer Fixpunkt keinesfalls willkürlich gewählt. Sie markiert einerseits den Beginn einer ganz neuen Baudynamik, die sich in dieser Epoche entfaltete, andererseits war die Quellenlage davor zu spärlich, um die Bausituation umfassend zu rekonstruieren.
Was stand wann wo?
Das Buch ist in sieben chronologische Kapitel eingeteilt. Das erste Kapitel fasst nochmals kurz die Entwicklung Leipzigs bis zum Jahr 1860 zusammen. Bis dahin war die Stadt kaum über den heutigen Innenstadtring hinausgewachsen, aber das sollte sich in den kommenden Jahren ändern. Die folgenden Kapitel sind jeweils gleich aufgebaut. Nach einem einleitenden Text zur allgemeinen städtebaulichen Entwicklung folgt eine Karte vom Zentrum.
Sie wirkt auf den ersten Blick ein wenig unübersichtlich und es ist auch etwas ungewöhnlich, dass der Norden nicht oben ist. Doch dafür sind die Karten in den einzelnen Kapiteln unglaublich detailliert. Die Grundrisse der für Leipzig so wichtigen Messehöfe ist genau erkennbar. Beim Hin- und Herblättern kann man die verschiedenen Zeiten gut miteinander vergleichen und sieht, wie sich die Bausubstanz veränderte und wo welche Abrisse und Umbauten erfolgten. Auch die Veränderung ganzer Straßenzüge und deren Umbenennung ist gut nachvollziehbar. Danach listet ein Statistikteil die Einwohner:innenzahlen und Eingemeindungen des jeweiligen Zeitabschnitts auf.
Darauf folgt dann der spannende Teil und die verschwundenen Bauten werden einzeln vorgestellt. Jedem Gebäude wird eine Seite mit einer kurzen informativen Erläuterung und weiteren Kartenausschnitten gewidmet. Den größten Teil einer solchen Seite nimmt allerdings eine historische Schwarz-Weiß-Fotografie ein. Ein kleineres buntes Foto zeigt den heutigen Zustand mit den Nachfolgebauten. Die älteren Bilder, besonders aus der Zeit vor 1900, sind schon sehr interessant, da die meisten sie wohl ohne die nebenstehenden Beschreibungen kaum zuordnen könnten.
Beim Lesen des Buches ergeben sich viele Aha-Erlebnisse und man hat das Gefühl, Leipzig noch einmal ganz neu kennenzulernen und viele Ecken anders wahrzunehmen. So erfährt man beispielsweise, wo Goethe vom Pferd gefallen ist, warum das Café Français so beliebt bei seinen Gästen war oder weshalb die Reklameburg auf dem Markt von den damaligen Leipziger:innen als „verwerfliche Geschmacklosigkeit“ angesehen wurde und deshalb eine eher kurze Lebensdauer hatte. Die letzte beschriebene Bauepoche umfasst die Jahre von 1990 bis 2018. Die Publikation endet also sehr aktuell und zeigt, dass selbst die verhältnismäßig jungen Bauten der ehemaligen DDR nicht von der Abrissbirne verschont blieben.
Bitte keine Nostalgie
Der Streifzug durch die Baugeschichte der Innenstadt ist Sebastian Ringel gut gelungen. Denn obwohl beim Lesenund Blättern manchmal ein wenig Schwermut aufkommt – wegen der vielen verlorenen Gebäude – wirkt das Buch in keiner Weise nostalgisierend. Es ist mehr eine Bestandsaufnahme von dem, was einmal war, und dem, wie es jetzt eben ist. Auch die Auswahl zwischen bekannten und unbekannten Bauten wirkt stimmig. So ist das alte Augusteum, welches 1968 gesprengt wurde, ebenso zu finden wie die Häuser an der Geisterpforte, die bereits 1869 abgerissen wurden und wahrscheinlich von den wenigsten Leipziger:innen noch zu verorten sind. Da das Buch weder zu dick noch zu schwer ist, kann man es auch gut auf einen eigenen Stadtrundgang mitnehmen und vielleicht entdeckt man dabei doch noch etwas von der verschwundenen Innenstadt.
Wie Leipzigs Innenstadt verschwunden ist.
150 verlorene Bauten aus aus 150 Jahren.
Texte von Sebastian Ringel
Edition Überland
224 Seiten | 21,50 Euro