Kultur Rezension „Immer Ich. Faszination Selfie“

DIE EGO-PERSPEKTIVE

„Die Generation Selfie verpasst die Welt hinter sich.“ – So lautet eines der prägnanten Zitate, die sich durch die aktuelle Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum ziehen. Viel Kritik hat das digitale Selbstporträt bereits einstecken müssen, wie im zitierten Fall von Spiegel-Journalist Frank Patalong. Doch ein Besuch der Ausstellung „Immer Ich. Faszination Selfie“ weitet den Blick auf das Kulturphänomen.

© Friederike Ostwald

Multimedial und umfassend widmet sich das Zeitgeschichtliche Forum beinah allen Aspekten der beliebten Bilder. Welche politische Bedeutung Selfies bekommen können, zeigen etwa die selbst geschossenen Fotos von Flüchtlingen mit Angela Merkel aus dem Jahr 2015 oder das Selfie, das der Künstler Ai Weiwei bei seiner Verhaftung aufnahm. Die Ausstellung macht deutlich, wie Selfies über die sozialen Netzwerke sowohl Skandale als auch gesellschaftliche Bewegungen auslösen, sowohl Marketinginstrument als auch Mittel zur Belästigung, sowohl ermutigend als auch tödlich sein können.

VON SELFIE-STICK BIS INTERAKTION

© Friederike Ostwald

Neben Fotos, Texten und Diagrammen arbeitet das Zeitgeschichtliche Forum mit Musik, Videos und interaktiven Bildschirmen. Unter anderem gibt es Mark Forster und Sido auf die Ohren, die jeweils einen Song mit dem Titel „Selfie“ veröffentlicht haben. Kurioses Zubehör wie der Selfie-Stick in Form eines menschlichen Arms führt zu Kopfschütteln, während ein prämierter Kurzfilm von Claudius Gentinetta nachdenklich macht. QR-Codes ermöglichen den Zugang zu weiteren Informationen, etwa einem Interview mit dem Filmemacher. Auf die Insta­gram-Profis unter den Besucher:innen warten zusätzlich spezielle Selfie-Stationen mit auswählbaren Hintergründen. Und nicht nur in den Ausstellungsstücken, sondern auch in den Räumlichkeiten selbst wird das Thema Selfie greifbar. Die meisten Wände sind foliert oder verglast, die Zitate bestehen aus holografisch reflektierenden Buchstaben und Lichtakzente setzen die Exponate in Szene. Stets spiegelt man sich bei ihrer Betrachtung und so wird jeder Schnappschuss vor Ort auch unfreiwillig zum Selfie.

REGT ZUM NACHDENKEN AN

© Friederike Ostwald

Sowohl positive als auch negative Facetten des Themasbeleuchtet „Immer Ich. Faszination Selfie“ ohne zu werten, sondern regt durch die gezielte Zusammenstellung der Exponate die Meinungsbildung der Besucher:innen an. Ein Selfie aus dem Urlaub steht etwa neben analogen Urlaubsfotos und Postkarten, gemalte Selbstporträts von Kindern und berühmten Künstlern neben den ersten Schwarz-weiß-Selfies. Für einen Moment denkt man: Selfies sind ja eigentlich doch nur Fotos, die einen Moment einfangen sollen. Was soll der ganze Trubel? Doch eine Ecke weiter werden die negativen Folgen eines wahren Wahns sichtbar. Wenn etwa idyllische Orte und abgelegene Sehenswürdigkeiten durch Touristenströme auf der Jagd nach dem perfekten Selfie dauerhaft zerstört werden, stellt man die digitale Selbstdarstellung infrage. Woher kommt dieser Drang, jeden Moment für die Nachwelt festzuhalten, anstatt ihn zu genießen? Bei dem Beispielfoto in der Ausstellung, das Selfieknipser an Unfallorten zeigt, verliert man fast den Glauben an die Menschheit. Warum machen Menschen Selfies in den unpassendsten Momenten und teilen sie mit der ganzen Welt? „Immer Ich. Faszination Selfie“ gibt keine Antworten auf diese Fragen, dafür aber genug Informationen und Gedankenfutter zum nachträglichen Grübeln. Fest steht: Selfies haben unsere Gesellschaft und Kultur verändert. Doch nur durch die technischen Möglichkeiten einer Frontkamera im Smartphone lassen sich die zum Teil bizarren Blüten, die der Selfie-Trend treibt, nicht erklären. Noch bis zum 30. Januar 2022 können sich Besucher:innen im Zeitgeschichtlichen Forum mit dem Phänomen Selfies auseinandersetzen.