„Zum Menschsein gehört dazu, immer wieder zu hoffen und zuversichtlich zu sein.“ Interview: Oberbürgermeister Burkhard Jung

Zu Beginn des Jahres blickt man gern nach vorn. Mit wem geht das besser als mit unserem Oberbürgermeister Burkhard Jung? Wir haben mit ihm über laufende Projekte wie Markthalle und Großsporthalle, den anhaltenden Herausforder­ungen wie Geflüchtete, bezahlbaren Wohnraum und über die aktuelle Lage zum klimaneutralen Leipzigs gesprochen.

Das kommende Jahr wird wohl für alle Leipziger:innen sowie Unternehmen und Institutionen ein herausforderndes Jahr. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Die größte Aufgabe in Bezug auf die Energiefrage und -preise liegt noch vor uns. In 2023 und auch 2024 müssen wir mit weiteren Preissteigerungen rechnen, weil die Energie im Jahr 2022 eingekauft wurde. Die Dämpfung durch die Bundesgesetze hilft zwar, dennoch ist etwa die Verdopplung der Kosten zu erwarten. Darauf müssen wir uns einstellen. Deswegen ist das Energiepreisdämpfungsgesetz ein wichtiger Punkt. Alle können planen, was auf sie zukommt. Zudem ist vielerseits der Anreiz da, zu sparen; beim Endverbraucher in der Küche, genauso wie bei Unternehmen und bei der Stadtverwaltung. Es müsste uns gelingen, die Gasmangellage dieses Jahr zu überwinden, sodass die Menschen nicht frieren müssen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage der Corona-Pandemie in unserer Stadt ein?

Wir sind aktuell in einer Übergangsphase. Manche sagen, wir sind bereits raus aus der Pandemie, in einer Endemie. Wir haben aber gelernt – oder müssen weiter lernen – mit dem Virus umzugehen. Das Coronavirus wird zu unserem Alltag gehören, auch wenn es durch Durchseuchung und Impfung insgesamt beherrschbar geworden scheint. Das spiegelt sich auch in unseren Krankenhäusern auf den Intensivstationen wider. Trotz aller Unsicherheit zu Beginn, wie das Virus überhaupt wirkt, können wir heute sagen: Das meiste haben wir richtig gemacht. Heute würden wir einige Entscheidungen anders treffen, wir haben zum Beispiel den Kindern viel zu viel zugemutet! Deutschlands Weg während der Pandemie ist dennoch ein erfolgversprechender gewesen. Prävention scheint immer nicht nötig zu sein, wenn sie am Ende funktioniert.

Und wie ist der Stand beim Pilotprojekt zur Pflegefachkraftgewinnung?

Wir haben weiterhin ein Personal-, aber auch ein Finanzierungsproblem in der Pflege. Die Krankenhäuser in Deutschland, die kommunalen, die universitären, aber auch die privaten sind strukturell unterfinanziert. Es wäre wünschenswert, wenn der Vorschlag von Karl Lauterbach zur Entlastung jetzt schnell Früchte zeigt. Die Krankenhäuser können es nicht stemmen, bei gleichbleibenden Vergüt­ungen mehr für Energie, Material und Personal zu bezahlen. Deswegen schlagen wir als Kommunen seit vielen Monaten Alarm.

© Franziska Seidel

Über 40.000 Studierende hat Leipzig jährlich. Der Wohnungsmarkt, steigende Kosten bei Energie, Miete und Nebenkosten sorgen bei vielen für Kopfschmerzen. Wie können Sie denen die Ängste nehmen?

Ich verstehe die Sorgen. Es ist schwierig, mit oder ohne BAFöG. Das Problem wurde im Bundesgesetz erkannt und man hat das Thema Wohngeld und spezielle Hilfsprogramme für Studierende auf der Agenda. Dennoch ist in Universitätsstädten wie Leipzig die Nachfrage nach Wohnraum unglaublich hoch; das treibt die Kosten. Insgesamt haben wir nach meiner Einschätzung in der Stadt noch eine relativ günstige Situation, so sind Wohngemeinschaften möglich und auch das Studentenwerk macht eine gute Arbeit. Trotzdem wird der Mangel nicht nachlassen, und die steigenden Kosten sind ein echtes Problem.

Bezahlbaren Wohnraum schaffen und vor allem erhalten, ist einer der 30 Punkte des Arbeitsprogramms 2023. Was wird und kann in diesem Jahr neben Inflation und Energiekrise umgesetzt werden?

Wir haben nicht das geschafft, was wir wollten. Es begann mit Corona, welches eini­ge Vorhaben ausgebremst hat. Dann gab es zu wenig Mittel im sozialen Wohnungsbauprogramm von Bund und Land und jetzt gehen die Baupreise durch die Decke. Viele Bauunternehmen warten ab und pausieren ganze Vorhaben. Das ist fatal für eine Stadt wie Leipzig, die nach wie vor wächst. Wir haben mit dem Bündnis „Bezahlbares Wohnen“ ein gutes Miteinander zu verschiedenen Akteuren des Leipziger Wohnungsmarktes geschaffen. Aktuell gibt es wieder Bewegungen, da wir als Stadt große Wohnbaugebiete ausweisen, aber auch durch Baupreise, die jetzt zum ersten Mal wieder abflachen. Die nächsten 12 bis 24 Monate werden entscheidend für uns sein.

Wie sieht es mit dem Punkt einer klimaneutralen Stadtverwaltung bis 2035 und dem klimaneutralen Leipzig bis 2040 aus?

Wir bewegen uns Schritt für Schritt in die richtige Richtung. Zum Beispiel mit dem Umstieg der Stadtwerke auf grüne Energie, Stichwort Wasserstoff­fähigkeit unseres neues Gaskraftwerks im Süden. Dazu der „Energieberg“ in Seehausen und Holzhausen, wo wir Solarenergie gewinnen wollen. Wir sind, was das Vorhaben angeht, auf Kurs. Anders ist es beim CO2-Ausstoß des Verkehrs, hier müssen wir noch dicke Bretter bohren. Wir müssen die Mobilitäts- und Energiewende schaffen, um halbwegs auf dem Ziel der 1,5 Grad zu bleiben. Eine klimaneutrale Stadtverwaltung ist bis 2035 denkbar. Damit sich auch die ganze Stadt klimaneutral nennen kann, muss jedoch noch sehr viel passieren.

© Franziska Seidel

Wie unterstützt die Stadt selbst, gerade auch in der kalten Jahreszeit, Wohnungslose und Institutionen, die sich für Obdachlose einsetzen? Sind weitere Unterkünfte, auch mit Hunden, hierfür geplant?

Niemand muss ohne Unterkunft sein und nachts auf der Straße schlafen. Für alle Obdachlosen ist ein Platz da. Als Stadt finanzieren wir die Leipziger Oase sowie den Hilfebus. Zur Wahrheit gehört: Einige nehmen diese Angebote aus den unterschiedlichsten Gründen dennoch nicht wahr. Hier geht es dann darum, die Versorgung und auch Kontakt zu den Personen zum Beispiel über Streetwork zu halten und damit zu verhindern, dass uns jemand erfriert. Das Thema Haustier ist ein Spezialthema: Hunde sind ein Problem in den Unterkünften. Wir haben eine Unterkunft in der Erikenstraße, dort werden auch Hunde mit aufgenommen. In den anderen Unterkünften für Wohnungslose ist das nicht möglich.

Insgesamt leben derzeit über 20.000 geflüchtete Menschen (etwa 11.000 aus der Ukraine) hier. Wie ist die Lage 2023 einzuschätzen? Was erwartet uns angesichts des anhaltenden Krieges, wie können Privatleute helfen und wie schützt die Stadt diese Menschen und Unterkünfte vor Angriffen wie jüngst in Mecklenburg-Vorpommern oder Bautzen?

Angriffe auf Asylbewerberheime sind widerlich. Ich finde das unerträglich! Wir haben in Leipzig zwei unterschiedliche Gruppen in der Flüchtlingsbewegung. Zum einen Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen und zum anderen Asylsuchende und Geflüchtete aus anderen Ländern. Die ukrainischen Flüchtlinge sind mit einer unglaublichen Hilfsbereitschaft aufgenommen worden. Von über 10.000 Geflüchteten aus der Ukraine sind nach letztem Stand etwa 8.500 privat untergebracht. Das ist eine großartige Hilfe! Zusätzlich sind im letzten Jahr knapp 2.000 Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Maghreb-Staaten zu uns gekommen. Darunter sind zunehmend unbegleitete Minderjährige, manche erst zehn bis zwölf Jahre alt. Mit jeder Flüchtlingswelle wird es schwieriger, eine Unterkunft für alle zu finden. Wenn es so weitergeht, sind wir im Februar und März bereits komplett ausgefüllt und müssen neue Strategien entwickeln. Jede Hilfe, die wir als Europa vor Ort organisieren, ist wichtig. Wir müssen die Menschen vor Ort unterstützen, Kriegsherde eindämmen und die Infrastruktur wieder verbessern. Erst kürzlich haben wir 61 Generatoren aus Leipziger Spenden nach Kyiv geschickt, um zu ermöglichen, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Einzelpersonen können sich in Hilfsvereinen engagieren, sich beim Städtepartnerschaftsverein Ukraine-Kontakt e. V. oder der Freiwilligen-Agentur melden. 

Kommt das 49-Euro-Ticket oder nicht?

Das 49-Euro-Ticket wird kommen, vermutlich im März oder April. Den Ansatz des einheitlichen „Deutschland-Tickets“ finde ich richtig und gut. Aber: das Projekt war noch nicht ausfinanziert. Nach den derzeitigen Bedingungen fordern viele Verkehrsbetriebe deutschlandweit, das Ticket nicht zu ihren Lasten einzuführen. Die Einnahmeausfälle für die jeweiligen Verkehrsträger und die Investitionen ins System sind noch nicht final bis über 2023 hinaus durchdacht. Der öffentliche Nahverkehr, auch bei uns im Leipziger Umland, muss qualitativ ausgebaut werden.

Ist das das Aus für das „365-Ticket“?

Ich bin damit im Wahlkampf angetreten und hatte große Hoffnungen. Dann kam Corona und riss uns die Pläne mit dem Wegbrechen der Fahrgastzahlen aus der Hand. Jetzt haben wir das „Deutschland-Ticket“ – und es geht nur eins von beiden. Mit dem neuen „Deutschland-Ticket“ hat man eine Qualitätsstufe mit einem viel besseren Niveau, da dies bundesweit gilt und nicht örtlich gebunden ist.

© Marius Mechler

Wie ist der aktuelle Stand bei der geplanten Markthalle auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz?

Nächstes Jahr beginnt das erste Großbauvorhaben auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz, das Leibniz-Institut, gegenüber der Stadtbibliothek. Das Naturkundemuseum startet ebenfalls bereits 2023 in den ersten Bauabschnitt. Aktuell in der Bedarfsplanung befindet sich das Forum Recht und das Juridicum. Hier startet der Bau voraussichtlich 2024/25. Zwischen Leibniz-Institut und dem Juridicum entsteht dann der Global Hub und Musikschule, Volkshochschule und Markthalle. Die Machbarkeitsstudie läuft gerade, ich wage daher heute noch nicht einen Grundsteintermin zu nennen. Ich bin bis 2027 gewählt und möchte innerhalb meiner Amtszeit die wesentlichen Bauvorhaben begonnen haben. (lacht)

Wann ist eine komplette Umfahrung mit dem Rad auf dem Promenadenring möglich?

Wir werden den Ring schließen. Ich bin dafür kritisiert worden, aber es braucht diese sichtbaren Dinge, um im Kopf etwas zu bewegen. Aktuell laufen die Untersuchungen vor dem Hauptbahnhof, die wohl dringlichste Stelle des Rad-Rings. Der Abschnitt vom Bahnhof bis zum ehemals Blauen Wunder wird 2023 realisiert.

Seit 2019 gibt es ihre Idee, eine Großsporthalle zu entwickeln und zu bauen. Zwischen Alte und Neue Messe: Soll sie noch gebaut werden?

Momentan ist die Finanzierung alles andere als sicher. Wir sind von dem Ziel einer neuen Großsporthalle wieder ein Stück weiter entfernt. Der Plan war ursprünglich, über die Transformationsmittel, den Braunkohle Ersatzmitteln, ein solches Angebot zu schaffen. Es wäre richtig, eine große Eventhalle für die Region, ganz Mitteldeutschland und einen Austragungsort für all die großen Ballsportarten zu besitzen.

2023 feiert Leipzig 50 Jahre Städtepartnerschaft mit Brno (Brünn) in Tschechien. Was dürfen die Bürger:innen für Programmhighlights erwarten? Was verbindet beide Städte?

Zum einen reise ich im Herbst mit einer Delega­tion ein paar Tage nach Brünn, zum anderen gibt es in der Stadt viele Events, die dieses Jubiläum feiern. So wird es zum Beispiel am 29. Januar ein Konzert im Gewandhaus geben, da die Filharmonie Brno und das MDR-Sinfonieorchester aktuell denselben Chefdirigenten besitzen. Wir erwarten eine Delegation aus Brünn im April, auf der Buchmesse im selben Monat wird tschechische Kinderliteratur ein Schwerpunkt sein.

© Leipziger Messe GmbH / Jens-Ulrich Koch

Auf welche kulturellen Highlights freuen Sie sich persönlich im kommenden Jahr?

Freuen können wir uns auf die Leipziger Buchmesse, die nach zwei Jahren Pandemiepause definitiv stattfinden wird. Außerdem werden wir ein großartiges Bachfest haben, da wir ein Bach-Jubiläum haben: Zum 300. Mal jährt sich der Dienstantritt Bachs als Leipziger Thomaskantor. Auch die Mendelssohn-Tage werden wieder ein Highlight. Ich freue mich auch auf das Klassik-Airleben im Rosental. Anfang Juni folgt dann unser Stadtfest, eine Woche vorab das Wave-Gotik-Treffen. Im Jahr darauf, 2024, feiern wir dann gemeinsam 35 Jahre Friedliche Revolution.

Wo können Sie – zwischen all der Arbeit – einfach mal abschalten?

Ganz ehrlich: Abschalten kann ich wirklich nur zu Hause. Auch in Restaurants bleibst du immer der OB. Verreisen tut mir gut. Die Leipzigerinnen und Leipziger sind immer diskret, doch sobald man woanders ist, wird man jedoch direkt angesprochen. So hieß es dann auch in New York quer über die Straße “Herr Jung! Hallo!” genauso wie in London oder Berlin.

Was möchten Sie unseren Leser:innen unbedingt noch sagen?

Trotz der vielen Krisen, in denen wir uns bewegen und die Sorgen, die wir haben – vom Klima bis zum Krieg – gehört es zum Menschsein dazu, immer wieder zu hoffen und zuversichtlich zu sein. Letztlich müssen wir darauf bauen, dass der Frieden einkehrt und das wünsche ich für uns alle.

© Andreas Schmidt / LTM