Jeder von uns ist ein Homo oeconomicus, ein wirtschaftlich denkender und handelnder Mensch, zumindest aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Aber kennen wir wirklich nur ökonomische Ziele und handeln wir tatsächlich nur uneingeschränkt rational? Im Leipziger Westen spielt sich aktuell ein sozioökonomischer Prozess ab, der sich zum einen unter dem Begriff Gentrifizierung zusammenfassen lässt und zum anderen wirtschaftliche und kulturelle Interessen miteinander vermischt. Während wir mit Ladenbesitzern und Anwohnern auf der Karl-Heine und Könneritzstraße über die Veränderungen des Straßenbildes sprachen, wurden nicht nur Rufe nach alternativen Freiräumen, sowie bezahlbarem Wohnraum laut. Der Verlust der kulturellen Vielfalt und dem schwindenden Gefühl, Teil eines lebendigen Stadtteils zu sein, geht den Menschen vor Ort ans Herz. Eine Tatsache, die sich nur schwer mit dem theoretischen Streben nach wirtschaftlicher Nutzenmaximierung vereinbaren lässt und dennoch von eben solchen Menschen vorangetrieben wird. Die deutlich sichtbare Attraktivitätssteigerung der beiden Leipziger Stadtteile Plagwitz und Schleußig kurbelt den Zuzug zahlungskräftigerer Eigentümer und vermögender Mieter zunehmend an.
Der Hintergrund der Schließung ist exemplarisch: Der Alteigentümer wird das Haus an einen der vielen Interessenten verkaufen. Die dringend notwendigen Renovierungsarbeiten gehen einher mit Mietpreiserhöhungen, die Kosai allerdings nicht zahlen kann. Die Zukunft des Geschäfts ist ungewiss: „Es ist schwer, gleichwertige Räumlichkeiten für einen solchen Preis zu bekommen. Die Mietpreise werden in Zukunft verdoppelt oder sogar verdreifacht. Für meine Bücher benötige ich allerdings 80-100m². Eine derart große Fläche ist in Leipzig momentan schwer zu bezahlen. Erst recht, wenn die Geschäftsidee nicht auf reine Gewinnmaximierung ausgerichtet ist.“ Dennoch ist der Zustand des Hauses schlecht, räumt Kosai ein. So sehr, dass die Wohnungen über dem Buchhandel kaum vermietbar sind und der größte Teil des Hauses bislang ungenutzt blieb.
„Ich bin einer der Steine, die auf der Straße liegen“
Oft schlendern Besucher, auf der Suche nach diesem alternativen Plagwitz zwischen Grünanlagen und Industriedenkmälern, nach einem besonderen Lebensgefühl und einer lebendigen Kunstszene mit Ateliers an seinem Buchladen vorbei. Häufig sind es durch Stadt- und Reiseführer geschürte Erwartungen, denen die Karl-Heine nicht gerecht werden kann. In den Seitenstraßen scheinen die Mieten hingegen noch bezahlbar zu sein. Vor allem in der Merseburger Straße in Richtung Lindenau lassen sich viele neue, kleine Läden nieder.
Der Headshop African Herbman wird allerdings aufgrund eines Eigentümerwechsels ebenfalls schließen müssen. Am Tresen der Schaubühne Lindenfels sprechen wir mit Steffi, die vor vier Jahren aus beruflichen Gründen in den Leipziger Westen zog und seither viele Läden kommen und gehen sah. „Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum 200 Meter neben einem Bioladen eine Bioladenkette eröffnen muss, oder zwei zusätzliche Bäckerfilialen. Ich würde mir wünschen, dass die Anwohner durch ihr Kaufverhalten die Gestaltung der Straßen wieder mehr mit beeinflussen könnten. Als Kunde spürt man, ob hinter einem Verkaufsprojekt eine Herzenssache oder reiner Profit steckt.“ Das Verschwinden der Volksbuchhandlung und des City Huhns bedauert sie sehr: ”Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Vereinheitlichung des Straßenbildes.” Aber einem kapitalistischen System, das erst dem Herzen und dann der Gewinnmaximierung folgt, würden die zahlungskräftigen Investoren wahrscheinlich wenig abgewinnen.
„Die Karl-Heine wird größer gemacht, als sie in Wahrheit ist.“
Trotz aller Tendenzen, ganz verschwunden sind die individuellen Lädchen auf der Karl-Heine noch nicht: Der Marokkaner Redouan Miladi feierte kürzlich nach Umbauarbeiten die Wiedereröffnung seines Geschäfts Casablanca und auch wenn Buthwo mit seinem Späti ab dem ersten April aus Platz-und Kostengründen umziehen wird, er bleibt den Plagwitzern vorerst erhalten. Eine kleine Stickerei, das Cineding, die kleine Drift-Buchhandlung und La Cantina gehören ebenfalls weiterhin zum Straßenbild. Die altbewährte Kultbar Noch Besser Leben Ecke Merseburger/ Karl-Heine stand zwar wegen einer Krankenkassenforderung und der hohen Miete kurz vor der Insolvenz, diese konnte aber durch einen Spendenaufruf abgewendet werden.
„Kaufkraft und Mietpreise sind unverhältnismäßig“, äußert auch Sven Schwalm, Inhaber des Hot Dog Ladens Beard Brothers & Sisters direkt nebenan. „Vorbei ist’s mit dem easy going. Einerseits steigen die Gewerbemieten in das Unermessliche, andererseits ist unsere Kundschaft aufgrund der steigenden Mietpreise rückläufig. Hohe Quadratmeterpreise und geringe Kaufkraft: Das vernichtet das entspannte Flair, das hier einst herrschte.“ Ebenso unnötig sind seiner Ansicht nach die eingeschränkten Freisitzgenehmigungen.
„Die Menschen wollen zwar in Plagwitz wohnen, die früher geschätzte Lebendigkeit aber nur noch aus der Ferne betrachten. Ab 22 Uhr bestehen einige Anwohner auf ihre Nachtruhe. Das ist absurd. Erstens setzen sich die Leute dann mit ihrem Bier auf die Straße und zweitens haben wir extreme Umsatzeinbußen. Die Stadt sollte entscheiden, ob die Karl-Heine leben oder sterben soll. Das klingt zwar dramatisch, aber auf der Karli sind Freisitzgenehmigungen bis 24 Uhr auch Gang und Gäbe.“ Während wir mit Sven auf der Bank vor seinem Geschäft immer mehr die Folgen von Gentrifizierung diskutieren, erzählt er uns von einem weiteren ernsten Problem, das seit letztem Sommer die Inhaber beunruhigt. „Innerhalb von drei Wochen räumten und klauten organisierte Diebesbanden Kassen und sogar Läden aus. Aber steigende Kriminalitätsraten und erhöhte Gewaltbereitschaft passen nicht zu den höher werdenden Ansprüchen der Bewohner, ebenso wenig wie zu unserem Stadtteil.“
„Entweder man zieht wie ein Nomade weiter oder erträgt die kulturelle Vereinsamung“
Die Probleme, die auf der Karl-Heine derzeit in den Köpfen und Geldbörsen der Menschen umhergeistern sind vielschichtig. Nur die kulturellen Freiräume scheint bislang niemand zu vermissen. Also machen wir uns auf den Weg in das Westfach, das in direkter Nachbarschaft zum Westwerk am ehesten Künstler und letzte Vertreter der alternativen Szene beherbergt. „Den kulturellen Anspruch tragen die Menschen grundsätzlich schon noch in sich, aber Kultur fungierte eben schon immer als Platzhalter in einem kapitalistischen System“, erklärt uns Sebastian Richter, verantwortlicher Geschäftsführer. Er legt eine Schallplatte auf, reicht uns einen Kaffee und erklärt, dass kulturelle Projekte nun mal nicht profitorientiert wirtschaften.
Ein weiterer Besucher gesellt sich zu uns und steigt in die Debatte ein, seiner Meinung nach sei „die Kultur“ auf der Karl-Heine schon immer Mainstream gewesen: „Tatsächlich sorgt vor allem die Gießerstraße mit ihrem eigenen Veranstaltungsbetrieb und das ehemalige Gelände der Baumwollspinnerei für eine subkulturelle Bereicherung im Stadtteil Plagwitz. Auch die Schaubühne Lindenfels erhält zusätzliche Förderung von der Stadt Leipzig und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und ist dadurch alles andere als selbstständig.“ Während das Drehkreuz Karl-Heine, das zwischen Felsenkeller, Elipamanoke, Karl-Heine-Kanal und Westwerk liegt, für jede Menge Gesprächsbedarf sorgt, scheint die Gentrifizierung im Stadtteil Schleußig, insbesondere auf der Könneritzstraße schon vollzogen. Zwar galt die Kö zu keiner Zeit als Kneipenmeile und lädt durch schmalere Gehwehwege nicht ganz so schön wie die Heine zum Schlendern ein, das Restaurantsterben auf der Straße kann trotzdem nicht unerwähnt bleiben. Ob Café am Park, Peach Pit, Elsterbar oder Veggie Burger, die Schließungen machen regelrecht die Runde.
„Essen gehen ist Luxus geworden.“
Moritz Kabitzsch, ehemaliger Inhaber des Café am Park macht wirtschaftliche und soziale Gründe für diese Entwicklung verantwortlich. „Essen gehen, erst recht unter der Woche, hat sich zu einem Luxusgut entwickelt. Die Kaufkraft sinkt oder verlagert sich auf andere Bereiche.“ Ende des letzten Jahres fasste er daher den Entschluss, seine Selbständigkeit aufzugeben.
Die Lokalität wird nun als Speisebar Klein und Fein von Karsten Schulze bewirtschaftet. Steigende Lebenserhaltungs- und Kindergartenkosten, nebst Mindestlohneinführung, sowie familienunfreundliche Arbeitszeiten sind nur einige Aspekte, die Moritz Kabitzsch zum Aufhören bewegten. „Besonders die hohe Miete und die steigenden Personalkosten hatten zur Folge, dass ich fast täglich über acht Stunden zusätzlich zu meinen Verpflichtungen als Chef im Service stand. Eine angemessene Entlohnung für eigene Bedürfnisse und Zeit für die Familie blieb kaum über. Am Ende stimmte der Umsatz einfach nicht.“ Dass den Anwohnern der Kö die Ausbreitung zusätzlicher Bäckerketten, Imbissbuden, Friseursalons und Konsumfilialen ebenso missfällt, verdeutlicht die Bar Subbotnik, die sich selbst als Nachfolger des Schlechtes Versteck und Kulturkneipe im Wohngebiet versteht.
Fakt ist, dass sich im Laufe der Zeit aus dem vermeintlichen Freiraum im Leipziger Westen eine Sensation entwickelt hat, die zunehmend Besucher anlockt, die nicht von allen erwünscht sind. Die Realität, aber vor allem die Gespräche mit den unterschiedlichen Bewohnern auf der Kö und der Karl-Heine haben gezeigt, dass unser Handeln nicht in allen Belangen von dem Streben nach Nutzenmaximierung bestimmt ist. Viele der Anwohner und Ladenbetreiber sehnen sich nach dem lebendigen Westen mit alternativen Freiräumen und bezahlbarem Wohnraum zurück. Aufhalten lässt sich ein solcher Prozess schwer, erst recht, wenn er wie in Schleußig so weit fortgeschritten ist. Bleibt uns tatsächlich nur die Option Sachen packen und wie ein Nomade weiter ziehen?