Mit der Chocolateria Sünde hat Naciye Kilic einen Ort der süßen Sinnesfreuden geschaffen. Längst ist ihr zierliches Café ein florierender Nachbarschaftstreffpunkt. Touris welcome.
An der Kreuzung Oranienstraße/Mariannenstraße bettet sich der Heinrichplatz rotzfrech lächelnd in die belebte Kreuzberger Luisenstadt. Jedes Gebäude hier scheint den Passanten seine Geschichte förmlich zuzurufen. Eines jedoch flüstert verführerisch zwischen den tönenden Graffitis hindurch: „Schokolade ist Gottes Antwort auf Broccoli“. Adrett sind – überdacht von einer sonnengelben Markise mit der Aufschrift „Sünde“ – vor dem Geschäft im Erdgeschoss einige Sitzmöbel arrangiert.
Zweifelnd, aber aus vollem Herzen mietete die Inhaberin Naciye Kilic vor knapp fünf Jahren den Laden ohne Heizung in der Oranienstraße 194 an, nicht wissend, dass er sich als Rohdiamant herausstellen würde. Mit ihrem Vater, der trotz Diabetes eine unersetzbare Lebensfreude in der Schokolade fand, entdeckte sie als Vierjährige die süße Sünde für sich. Sich damit selbstständig zu machen, war allerdings kein Lebenstraum: „Das war eine schräge Idee, eine, bei der man denkt, es wird sowieso nicht klappen. Und dann ist es real geworden, weil ich es einfach gemacht habe.“
In Kreuzberg zuhause
Gerade diese impulsive Eingebung hinter dem Laden ist es wohl, die ihn so authentisch macht. Naciye ist eng mit der Gegend verbunden, in der sie aufwuchs. Wenn sie Kreuzberg höre, sagt sie, werde sie gleich emotional. Der Bezirk sei für sie gefühlt einfach nur Zuhause.
Neben regelmäßigen Gästen aus der Nachbarschaft sind mittlerweile allerdings auch viele Besucher aus ganz anderen Regionen der Stadt an der Tagesordnung. So etwa ein Ehepaar, das durch einen Rundfunkbericht auf die Chocolateria aufmerksam wurde. Der Laden habe ihnen so gut gefallen, dass sie den weiten Weg aus Erkner für einen Wochenendausflug auf sich genommen hätten, erzählen sie.
Naciye ist ob der großen Aufmerksamkeit für das kleine Geschäft immer wieder baff: „Manchmal fotografieren hier Menschen und ich denke mir: ‚Wovon machen die eigentlich ein Foto?‘. Aber eigentlich bin ich total stolz darauf, ohne Erbe und wirklich mit eigenen Mitteln, eigener Energie und eigenen Ideen so mutig gewesen zu sein.“ Alles, was sie über Schokoladenproduktion wissen musste, hat sich Naciye erlesen, ergoogelt und durch Gespräche in Erfahrung gebracht.
Don’t worry, be happy
Naciyes eigener Geschmack ist der roter Faden des Sortiments, das – ebenso wie die Einrichtung – auf wundersame Weise perfekt harmoniert: Für liebesbekümmerte Damen gibt es eine „Drama Bag for Women“, für Kinder saisonal Eis, Kaffeetrinker kommen bei exquisiten Kreationen auf ihre Kosten, Kuchenliebhaber können in Kalorienbomben schwelgen und überall findet man kleine hübsche Mitbringsel für liebe Menschen, denen man auch ein Stückchen Glück gönnt. Die Persönlichkeit, die aus Sortiment und Laden spricht, ist warmherzig, einladend, hat Sinn für Humor und nimmt das Leben wie es kommt: mit Drama, herb-zarten Trüffeln, Vollmilchschokolade und zuweilen einer Spur Orange und Karamell. Umringt von Marienbildern kann man mit Gottes Segen (wir erinnern uns an „Gottes Antwort auf Broccoli“) süße Sünden in einer Atmosphäre begehen, die jedes schlechte Gewissen mit einem „Und es hat gut getan!“ davonwischt.
Naciyes Gäste sollen hier Anlass bekommen, sich ein wenig dolce vita wert zu sein: „Alle wollen Licht haben im Leben, jeder will irgendwo reingehen, wo eine gute Energie ist. Weißt du, wenn die Leute draußen überleben und Stress haben, finden sie hier mit einer Tasse Schokolade ein ‚Das gönn‘ ich mir jetzt, ich bin mir wichtig‘. Das finde ich einfach total klasse.“ Schokolade ist in der Lage, über den positiven Genussmoment hinaus die Welt ein kleines bisschen schöner zu machen. Diese Botschaft erzählt der Laden mit witzigen Sprüchen, einem Statut an Marienbildern, allerlei kuriosen Figürchen und natürlich fantastischen Schokoladenprodukten. Abgesehen davon kann Schokolade – davon ist Naciye überzeugt – allerdings noch mehr aussagen:
Ein Schokokuss zum Umdenken
Mit ihren politisch korrekten Schokoküssen hat sie einen Vorstoß gegen die immer noch weit verbreitete Bezeichnung „Negerkuss“ gewagt, die sie schlicht für ein unnötiges Relikt sprachlicher Bequemlichkeit hält: „Ich verstehe nicht, dass wenn Menschen wissen, dass andere traurig sind oder es etwas sie anhand der Geschichte berührt, man das nicht aus der Sprache nehmen kann. Wenn‘s andere Leute verletzt: Wieso sagst du das einfach so?“ Ihre expliziten Schokoküsse sollen Kunden zum Umdenken bringen und sind ganz nebenbei inzwischen ein riesiger Erfolg. Aus dem einfachen Wunsch, etwas Mitfühlendes, Politisches in die Welt zu bringen, sei längst eine Marke geworden, stellt Naciye fest. Frisch gekühlt serviert sie die schaumige Süßigkeit auch den zahlreichen Reisegruppen, die am Wochenende ihre kulinarischen Runden durch Kreuzberg drehen.
Zunächst sei sie die touristischen Kooperationen aus finanziellen Gründen eingegangen, sagt sie. Längst liebe sie aber die vielen verschiedenen Menschen, die dadurch in den Laden kämen. Jeder sollte sündigen, findet sie. Amen!
Infos: Chocolateria Sünde, geöffnet Mo–Sa 10–19 Uhr, Sa 10–19 Uhr, So 12–18 Uhr, Oranienstr. 194, 10999 Kreuzberg