Der vielgelobte Theaterregisseur Milo Rau hat im Lenin-Jahr 2017 in der Schaubühne ein mutiges Stück präsentiert. Mutig, weil es an der Legende der russischen Polit-Ikone sägt. Es läuft noch bis Mitte Februar.
Der Revolutionsführer Lenin wird von Ursina Lardi authentisch als hilfloser Greis gespielt, der vom Nachfolger Stalin (Damir Avdic) schon zu Lebzeiten bevormundet und benutzt wird. Schwäche, das passt irgendwie nicht zum Bild Lenins in Geschichtsbüchern. Ebenso wenig wie die aufdringlichen Kameramänner und die riesige Leinwand über der Bühne mit der Kulisse einer stilvollen 20er-Jahre-Datscha harmonieren. Hier wird der Bruch mit dem Erwarteten brutal inszeniert.
Lenin als Opfer
Lenin liegt im Bett, bleich, seine Augen suchen nach Orientierung. Die ärztliche Untersuchung lässt der kraftlose Körper über sich ergehen, wird grob ausgezogen und in eine Badewanne gefrachtet. Respektlose Kameras dringen in die intime Szene ein, bilden in entwürdigender Nähe ab, was geschieht. In „Lenin“ ist dieser so sehr bedauernswertes Opfer, dass man vergessen könnte, dass sein Roter Terror, die kompromisslose Verfolgung politischer Gegner, hunderttausende Menschen das Leben kostete.
Kurz vor dem Tod einer Idee
Lenins Weltrevolution ist 1924, kurz vor seinem Tod, gescheitert. Die internationale Verbrüderung war ein Trugschluss. „Wenn nur ein einziger Mensch unfrei ist, dann ist die Unterdrückung nicht abgeschafft!“, bäumt sich der Revolutionär in einer verzweifelten Rede gegen diese Gewissheit auf. Ihm ist klar, dass der Tod nah und der russische Sozialismus bereits vom Machthunger Stalins gekapert ist. Gegen seinen Willen wird Stalin ihn im Volksgedächtnis neben Marx und Engels einreihen, in die Rolle einer Ikone pressen und sich selbst als legitimen Erbe verkaufen. Lenin treibt auf das Unausweichliche zu und das beklemmende Gefühl seiner Ohnmacht, es überträgt sich. „Seht euch an: Alles Bürokraten, Künstler, Lehrer, Kleinbürger. Wo sind die Bauern? Wo die Arbeiter? (…) Wo sind all die Sklaven Chinas, Afrikas Asiens?“, donnert Lenin dem Publikum entgegen. Gerne würde man sich dem Kampf dieses tragischen Individuums auf der Bühne entziehen, sich nicht angesprochen fühlen, doch etwas bleibt hängen.
Dystopie und Hoffnung
Die Ikone Lenin wird aufgelöst in verstörend distanzierten Kamerabildern. Ein technisierter, moderner Blick auf das Häufchen Elend, das von der Idee einer gerechten Welt geblieben ist. Eben in der Dystopie dieses unbehaglichen Stückes steckt ein Plädoyer für Courage. „Lenin“ ist aufreibend und erfordert Konzentration, doch versprüht gleichsam einen Funken tiefer Hoffnung, der gerade in trostlosen Zeiten so wertvoll ist.
Infos: https://www.schaubuehne.de