Der einstige Problembezirk zieht mittlerweile ein großes Publikum an. Kein Wunder: Er hat unendlich viele Facetten. Die schönsten davon werden hier beleuchtet.
Nach dem Krieg, zu Zeiten der deutschen Teilung, wollte hier niemand so recht wohnen, lagen Neuköllns Grenzen doch unmittelbar an der Mauer zum Ostbezirk Treptow. So ließ sich hier aufgrund der billigen Mieten die Arbeiterschicht Westberlins nieder. Dazu gesellten sich arabische Einwandererfamilien, vor allem diejenigen mit palästinensisch-libanesischen Wurzeln, die während des Libanonkrieges Zuflucht in einer neuen Heimat suchten. In den Nuller Jahren machte der Stadtteil aufgrund seiner hoher Kriminalitätsrate Schlagzeilen, gleichzeitig zogen viele mittellose Künstler und Studenten her. Mit ihnen erhielten alternative Bars, Galerien und vegane Restaurants Einzug. Deshalb ist Neukölln mittlerweile zum wahrhaften Erlebnis-Potpourri geworden.
Architektur aus vergangenen Tagen
Schaut man genau hin, findet man aber auch heute im Stadtteil neben den unzähligen Arbeiteraltbauten noch wesentlich ältere Gründerzeithäuser mit Extratreppenhäusern für Dienstpersonal und andere Relikte aus vergangenen Zeiten. Zum Beispiel den schmucken Körnerpark: Die neobarocke Parkanlage erinnert mit Orangerie, Statuen und akkurater Bepflanzung an ein Mini-Versailles und ist vor allem im Sommer ein lauschiger Ort für ein Picknick. Wer im wahrsten Sinne des Wortes in Prunkzeiten eintauchen möchte, kann dies im 1914 fertiggestellten Stadtbad Neukölln (Ganghoferstr. 2) tun. Das neoklassizistische Schwimmbad gilt als eines der schönsten Berlins. Es erinnert durch seine Säulen und hohen Decken an eine antike Therme. Die Öffnungszeiten variieren. Montags ist das Bad nur Frauen zugänglich.
Ein weiteres architektonisches Highlight ist das Passage-Kino (Karl-Marx-Str. 131), das 1910 als Lichtspielhaus seine Türen öffnete. Rote Samtsessel, Kronleuchter und stuckverzierte Decken wurden detailgetreu saniert. Es gehört zur Yorck-Gruppe und bietet ein vielfältiges Programm. Zwischen Arthouse und Mainstream bewegt sich auch das weniger pompöse Rollberg-Kino (Rollbergstr.70), das die Filme oft in OmU zeigt.
Highlights aus Hummus
Bei den kulinarischen Imbiss-Highlights scheiden sich die Geister: Azzam (Sonnenallee 54) oder Al-Andalos (Sonnenallee 40), wo gibt es den besten Hummus? Ich habe darauf noch keine Antwort gefunden, denn beide Läden sind unschlagbar. Es gibt viele libanesische Restaurants auf der Sonnenallee, aber die beiden genannten zählen zu den Spitzenreitern. Wer mehr Wert auf Ambiente legt, dem sei das recht neue Os’ Kitchen (Anzengruber Str. 20) ans Herz gelegt. Traditionelle arabische Küche wird hier modern interpretiert. Die Auswahl ist riesig: Neben Snacks wie
Kulinarisch gibt es in Neukölln schier unendliche Möglichkeiten. Burgerfans kommen bei Schillerburger (Karl-Marx-Str. 223), von denen es mittlerweile schon neun Stück in ganz Berlin gibt, auf ihre Kosten. Knusprige Brötchen aus der eigenen Backstube treffen auf frische Saucen und regionale Zutaten. Authentisch italienisch geht es im Sala da Mangiare (Mainzer Straße 23) zu. Getreu seines Namens sieht das Lokal aus wie ein gemütliches Esszimmer mit wenigen Tischen. Meistens gibt es italienische Käse- und Wurstsorten in Bioqualität als Antipasti und zum Hauptgang
Lange Nächte in Neukölln
Bars und Kneipen gibt es zuhauf: Empfehlenswert ist das Circus Lemke (Selchower Str. 31). Hier bekommt man kompetent gemixte Drinks aus hochwertigen Spirituosen. Eine andere nette Bar ist das Valentin Stüberl (Donaustr. 112), in der die Gäste zu Bier und Wein auch Snacks wie Obatzda und Leberkäse bestellen können. Für abendliche Unterhaltung sorgen eine regelmäßige Plattenzwangsversteigerung oder die Talkrunde Simi Will, bei der z.B. schon Rosa von Praunheim zu Gast war.
Die Kehrseite der Medaille
wäre, hat dazu geführt, dass der Zuzug inzwischen riesig ist. Mit fatalen Folgen: Altmieter werden vertrieben, Wohnhäuser aufgekauft und luxussaniert, um anschließend Touristen als Airbnb-Unterkunft zu dienen. Die Heterogenität, die Neukölln so charmant gemacht hat, befindet sich auf dem absteigenden Ast: Eine neue Wohnung finden hier mittlerweile eher zahlungskräftige Einzelpersonen als große Familien. Martin Gorecki vom Quartiersmanagement Ganghoferstraße berichtet, dass vor wenigen Jahren noch Kästen mit Wohnungsangeboten überall in Neukölln zu finden waren. Das Überangebot ist ins Gegenteil umgeschlagen: „Mittlerweile sammeln sich vor den Wohnungsbesichtigungen in Neukölln Trauben von 40,50 Leuten“, so Gorecki. „Dem Mietmarkt fehlt die Reglementierung – eine Wohnung ist nicht ein herkömmliches Produkt wie die Möhren, bei denen ich entscheiden kann, in welchem Supermarkt ich sie kaufe.“ Vom Ausdruck „Gentrifizierung“ hält Gorecki nicht viel. Man könne nicht den Zugezogenen die Schuld an der Misere auf dem Mietmarkt geben – das Problem läge bei den Vermietern.
Eigentlich liegt es bei der Politik: Die Instrumente Mietpreisbremse und Milieuschutz scheinen zu schwach ausgestaltet, um die Kiezentwicklung sozial sinnvoll zu steuern. Edellokale, Biosupermärkte und Holzspielzeuggeschäfte siedeln sich da an, wo vorher noch Handyshops und Chicken-Imbisse ihr Dasein frönten. Dazwischen häufen sich schicke Eigentumswohnungen. Und Weichsel- und Weserstraße könnte man eine Zukunft als Simon-Dach-Straße 2.0 prognostizieren: Im Monatstakt eröffnen neue Bars und Restaurants. Fraglich, wie die Zukunft des Stadtteils aussehen wird. Man kann nur hoffen, dass er uns mit all seinen Facetten erhalten bleibt: Mit preiswertem Orangensaft, arabischen Schriftzügen auf der Sonnenallee, jeder Menge Historie und einer alles andere als eintönigen Bewohnerschaft.