„Ich könnte im Bikini raus gehen, trotzdem hat kein Mensch das Recht, mich anzupacken“ Interview mit LOTTE

Nach „Querfeldein“ und „Glück“ veröffentlichte LOTTE in diesem Jahr mit „Woran hältst du fest, wenn alles zerbricht?“ ihr drittes Album. Mit über 250 Millionen Streams ist sie auch aus dem Radio nicht wegzudenken. Am 19. Dezember ist sie passend zum Abschluss eines spannenden Jahres im Täubchenthal zu Gast. Wir haben mit der 27-Jährigen über mentale Gesundheit, ihre Reise zu sich selbst und Weihnachtstraditionen gesprochen.

© Svenja Ava

Ende November startet deine „Lass die Musik an Tour“ in Deutschland, Österreich und Luxemburg. Ein perfekter Jahresabschluss: Ist das für dich die Krönung des Jahres?

Das fasst auf jeden Fall alles recht gut zusammen, ein richtiges Fazit. Das Jahr war voll crazy, angefangen damit, dass ich mein Album Stück für Stück herausgebracht habe, und dann war ich bei „Sing meinen Song“ in Südafrika. Es sind so viele Sachen passiert und jetzt ganz zum Schluss spielen wir dieses Album endlich live. Das ist das Schönste und Emotionalste, da wir hier direkt etwas von den Menschen zurückbekommen.

Neben deiner Teilnahme bei „Sing meinen Song“ und einer Support-Tour mit Clueso haben wir dich in diesem Jahr in deinem neuen Album vor allem privat viel besser kennengelernt. Was ließ dich umdenken, auch schwierige Themen anzusprechen und deine Songs noch persönlicher und autobiografischer zu machen?

Ich bin mit der Zeit mutiger geworden. Ich habe gemerkt, dass ich mich vor nichts verstecken muss, gleichzeitig war dann auch das Bedürfnis da, dass ich mich vor nichts verstecke. Ehrlich gesagt wahr ich ein bisschen gelangweilt. Klar bring ich Musik raus, aber alles hat sich ein bisschen oberflächlich angefühlt. Ich hatte das Gefühl, ich will mehr vom Leben und ich will Wichtigeres tun. Ich habe so viel in meinem Leben erlebt, auch Sachen, über die ich mich vorher nicht getraut habe zu sprechen, die aber vielen passieren.

Viele Tabuthemen sind eben Tabuthemen, weil nicht über sie gesprochen wird. So viel Heilung kann erst passieren, wenn darüber gesprochen wird. Gerade wenn es um sexualisierte Gewalt, Depressionen und so etwas geht. Genau das habe ich selbst erlebt, deswegen war es mir an irgendeinem Punkt wichtig, den Dingen, die mir wichtig sind, mehr Bedeutung zu geben. Das mache ich, indem ich noch ehrlicher und direkter bin. Das Feedback war schön, so viel Dankbarkeit von Menschen.

Was tust du für deine mentale Gesundheit?

Dazu muss ich sagen: Ich bin auf jeden Fall kein Profi. (lacht)

Was ich versuche, ist meditieren, das hilft mir sehr. Dadurch, dass ich ein bisschen hochsensibel bin, das heißt, emotional ganz viel im Außen, fühle ich viel, wie es allen anderen geht, dabei vergesse ich aber mich selbst. Ein bisschen wie ein Chamäleon. Ich nehme das an, wie es anderen geht. Es ist daher wichtig, dass ich mich immer wieder selbst bei mir zentriere und schaue, wie es mir geht. Bin ich glücklich, müde oder traurig? Bin ich wirklich traurig oder ist jemand anderer im Raum gerade traurig? Einfach solche Momente.

Zu schauen, wer ich eigentlich bin, dabei hilft mir Meditation. Das hilft auch bei so vielen anderen Sachen wie Stress, besserer Konzentration. Ich liebe das, auch wenn ich es viel zu selten schaffe. Aktuell ist es ein bisschen SOS-mäßig. Wenn ich merke, ich bin kurz vorm Durchdrehen, dann gehe ich gern zur Therapie und versuche mit Gesprächen alles zu klären. Ich bin jetzt ehrlicherweise auch nicht jede Woche bei der Therapie. Manchmal kann man sich aber einfach nicht mehr selbst helfen, ist in einem Strudel von Stress, Ängsten und Erfolgsdruck gefangen.

Was unterscheidet Charlotte 2022 von der zum Beginn deiner Karriere 2017?

Ich finde es voll schön, dass alles passiert ist, wie es passiert ist. Neue Sachen probiere ich gern aus, war zwischendurch mal blond, dann wieder dunkel, dann habe ich ein Album gemacht, was viel poppiger war als davor, und jetzt habe ich das Album gemacht. Ich bereue von all dem nichts. Diese ganze Reise war so schön. Das macht das Leben aus, sich auf Neues einzulassen, wo man eben nicht weiß, wo führt das hin.

Ich habe ein Zitat von David Bowie, glaube ich – „Wenn du Kunst machst, dann musst du so weit gehen, dass dir das Wasser bis zum Hals steht und dann noch ein Stück weiter.“ Also wenn du zu weit bist, bist du an dem Punkt, wo Gutes entstehen kann, abseits deiner Komfortzone. Dadurch, dass ich so viel ausprobiert habe, war es eher eine Reise zu mir selbst. Sodass ich weiß, das bin ich vielleicht alles nicht und das wäre ich vielleicht gerne. Ich wäre vielleicht gern urbaner (lacht) oder tougher, aber ich bin halt so, wie ich bin. Das habe ich vor allem gelernt, zu mir zu stehen mit allem, was dazu gehört.

Woran hältst du dich fest, wenn alles zerbricht?

Wenn wirklich alles zerbricht, habe ich jetzt in meinem Leben Familie und Freunde, die mir sehr nahestehen, ein sicheres Umfeld geben, aber wenn wirklich das alles wegfällt, bin ich mit mir alleine. Dann ist es mir umso wichtiger, dass ich mich kenne. Ich möchte mich nicht 90 Prozent der Zeit ignorieren und nicht mit mir alleine sein können. Sondern mich so lieben, wie ich bin, mit allem. Mit mir klarkommen und mich an mir selbst festhalten können.

Deine Reise (zu dir) hat dich Anfang des Jahres auch auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela geführt. Welcher Moment fällt dir ein, wenn du an diese Reise zurückdenkst und bist du bei dir angekommen, vielleicht?

Die Reise war sehr emotional. Kurz bevor wir losgegangen sind, habe ich meine Single „So wie ich“ rausgebracht. Das ist ein Lied, in dem ich über meine Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt erzähle. Das war echt eine sehr emotionale Zeit. Während ich auf dem Jakobsweg war und versucht habe, das Handy wegzustecken, kamen die ganze Zeit Nachrichten rein. Von Freunden und Familie, die fragten, was passiert ist, bis aus meinem Umfeld und ganz viel Feedback. Es war sehr schwer, wirklich anzukommen.

Ich dachte immer in der Natur, auf dem Weg nach Santiago de Compostela: „Das ist es“, aber mein Kopf ist so gerast. Ich habe erst gemerkt, als wir im Hotel saßen und die Reise eigentlich schon vorbei war, wie aufgedreht ich war und dass es so eine intensive Zeit war wie das ganze Jahr irgendwie. Da bin ich kurz mal ruhig geworden. Ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg anzukommen, aber gerade passiert so viel, dass ich das alles erst mal mitnehme und dankbar bin für das Chaos, was gerade aufgewirbelt wird.

© Laura Becker

Der Song „So wie ich“ erzählt die Geschichte eines sexuellen Übergriffs und polarisierte Anfang des Jahres durch treffende und schmerzhafte Worte die Medien und Zuhörer:innen. Gab es durchweg positives Feedback? Haben Reaktionen dich an deinem Weg zweifeln lassen? 

Im Kern war das Feedback positiv und dankbar. Es gibt so viele, vor allem Frauen, aber auch Männer, so viele Menschen, denen etwas Ähnliches passiert ist. Es ist immer noch ein Tabuthema, was nicht angesprochen wird. Ich habe so viele private Nachrichten bekommen, es war sehr, sehr schön. Was manche Menschen nicht ganz verstanden haben oder sich extra aufgerieben haben, war das Outfit im Musikvideo. Das war von einer Berliner Designerin und ich liebe dieses Kleid, man sieht aber sehr viel Haut.

Ich glaube, da war das Verständnis nicht ganz da und da gab es auch Nachrichten wie „Ey, wenn du so etwas angehabt und ich dich getroffen hätte, hätte ich dich auch angefasst”. Das hat für einen kleinen Moment schon wehgetan. Ich dachte, wie kann man so etwas sagen oder mir meine Wahrheit absprechen. Es ist meine Geschichte und ich erzähle sie aus meiner Perspektive. Ich sage auch immer, ich habe das überlebt. Für mich hat es sich wie eine offene Nacktheit angefühlt und ganz klar wollte ich damit auch ein Zeichen setzen. Nur weil man viel von seiner Haut zeigt, ist das noch lange keine Einladung zu irgendwas. Ich könnte im Bikini raus gehen, trotzdem hat kein Mensch das Recht, mich anzupacken. 

„Weil sich das Ding mit dem Herz am Ende eh nie rentiert“ singst du in „Fuck baby, I’m in love“ über unerwartete Gefühle. Wie sieht dein Happy End aus?

Das ist eine gute Frage, das wechselt viel. Am Ende des Tages möchte ich eine Beziehung, einen Menschen an meiner Seite haben, mit der/dem man auf Augenhöhe ein Team bilden kann. Was den Rest angeht, also das, was uns die Gesellschaft eine Weile lang traditionell vorgelebt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob Monogamie die Form ist, mit der ich klarkomme. Keine Ahnung, schauen wir mal. Ob man mit der Person zusammenlebt oder nicht, es ist so viel möglich und es ist wichtig, zu schauen, was für mich eigentlich passt. Ich bin ganz traditionell aufgewachsen, meine Eltern sind noch zusammen und ich habe drei Geschwister. Vielleicht ist es das, aber vielleicht wird es auch eine ganz andere Partnerschaftsform. Ich wünsche mir eine Person auf Augenhöhe und dass man füreinander da ist. 

© Laura Becker

Am 19. Dezember bist du in Leipzig im Täubchenthal live zu erleben, welche Erinnerungen hast du an vorherige Auftritte hier?

Mein Bruder lebt mit seiner Freundin in Leipzig, deswegen bin ich öfter da. Ich war schon sehr oft da. Leipzig ist eine unfassbar geile Stadt und das sage ich jetzt nicht in allen anderen Städten. Zum einen ist Leipzig eine politische Stadt, was ich schön und wichtig finde. Emanzipiert, und unglaublich viele tolle Frauen hier, die am Start sind (lacht). Das alles gibt es nicht in jeder Stadt. Auch großartige Konzerte hatte ich hier. Wir haben schon mehrfach im Täubchenthal gespielt, da sind wir auch in diesem Jahr wieder. Hammerschöne Location und sehr gutes Catering (lacht). Ich war letztens mit Clueso in Leipzig und ich finde, man merkt einfach, die Leute können hier loslassen, die haben Bock zu feiern und für einen Abend mal alles zu vergessen. Ich freue mich wirklich drauf, es ist ja auch fast am Ende unserer Tour. Da reißen wir einfach richtig ab!

Zwei Tage vor Weihnachten ist das Tourfinale. Wie verbringst du Weihnachten? Gibt es persönliche Traditionen, auf die du Wert legst?

Ich bin ein Familienmensch und fahre auf jeden Fall in die Heimat nach Ravensburg. Dann wird Weihnachten wie jedes Jahr. Das klingt so doof, weil ich sonst ein freiheitsliebender Mensch bin, ein Lebemensch sogar und mache gefühlt nichts zwei Mal. Wenn ich mir früh einen Kaffee hole, hole ich mir diesen den nächsten Tag woanders. Ich möchte einfach immer alles ausprobieren, alles neu machen. Aber an Weihnachten brauche ich, dass es genau so ist, wie damals, als ich 15 Jahre alt war. Ich will, dass die Geschenke unter dem Baum liegen. Den Weihnachtsbaum sehen wir nicht vor Heiligabend. Meine Eltern schmücken den und wir Kinder dürfen bis dahin nicht in dieses Zimmer rein. Es gibt immer traditionelles Essen, ein Käsefondue, was ich sehr liebe. Die Tage darauf gibt es Rehbraten mit Preiselbeeren. Es wird also familiär und ruhig.

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Hinweis: Das geplante Konzert von LOTTE am 19. Dezember 2022 musste krankheitsbedingt verschoben werden. Der neue Termin ist der 13. Januar 2023, ebenfalls im Täubchenthal. Tickets behalten ihre Gültigkeit.

© Laura Becker