Zwangseinweisung und sozialistisches Frauenbild
Den größten Teil des Romans tauchen wir in das Leipzig der 1980er Jahre ein. Die 17-jährige Manja beschäftigt sich mit Themen, die einen als Teenager:innen so umtreiben: Sie verbringt Zeit mit ihrer Freundin Maxie, schwänzt mit ihr gemeinsam die Schule und trifft sich auf der Kleinmesse mit Jungs. Nachdem die Volkspolizei sie mit dem Vertragsarbeiter Manuel auf seinem Zimmer erwischt, wird sie in eine geschlossene venerologische Station zwangseingewiesen.
Schnell wird deutlich, dass sie nicht wirklich wegen einer Geschlechtskrankheit inhaftiert ist, sondern weil sie nicht dem sozialistischen Frauenbild entspricht und eine sogenannte Herumtreiberin ist. In der DDR waren diese Einweisungen eine übliche Methode, um junge Frauen zu bestrafen. Der Alltag auf der Station ist brutal, sowohl durch die Schwestern als auch zwischen den Patientinnen herrschen ein rauer Ton und Gewalt. Zwischendurch erfahren die Leser:innen auch Geschichten von anderen inhaftierten Frauen. Die Ich-Erzählerin Manja erzählt die Ungerechtigkeit und Brutalität, die ihr widerfährt, in einem eher nüchternen Ton, trotzdem ist es leicht, Mitgefühl mit ihr zu entwickeln.
Einsamkeit in der Gegenwart
Im zweiten Teil des Buches lernen wir Robin kennen. Sie arbeitet 2015 in besagtem Gebäude in der Lerchenstraße, inzwischen ist dieses eine Unterkunft für Geflüchtete. Robins Geschichte wird am wenigsten thematisiert, trotzdem erhält man als Leser:in einen Einblick in ihre Gefühlswelt. Geprägt von Ereignissen wie den Terroranschlägen am 11. September 2001 und dem anschließenden Einmarsch der USA in Afghanistan, den Harry-Potter-Büchern und der Trostlosigkeit des Onlinedatings hat Robin mit Einsamkeit zu kämpfen, die Schicksale der Geflüchteten gehen ihr nah.
Diese hochkommenden Gefühle scheint sie mit Drogen, Technopartys und belanglosem Dating betäuben zu wollen. Auch wenn Robin im Unterschied zu den anderen beiden Frauen viel mehr Möglichkeiten hat, frei zu sein, wirkt sie nicht glücklich. Es ist nicht einfach, einenZugang zu Robin zu finden: Auf der einen Seite ist es verständlich, dass ihr Arbeitsumfeld sie belastet und sie in ihrer Freizeit versucht, diesem zu entfliehen. Auf der anderen Seite wirkt sie unnahbar und kalt, man versteht ihre Emotionen nur schwer.
Hoffnungslosigkeit und positive Momente
Lilo wächst in den 1940ern im Umfeld des kommunistischen Widerstands auf. Sie unterstützt bei Botengängen und beim Drucken von Flugblättern, 1944 wird sie inhaftiert und ins Gefängnis in der Lerchenstraße gebracht. Lilos Geschichte scheint aussichtslos, getrennt von ihrer Familie in einem nationalsozialistischen Gefängnis, ihr Vater zum Tode verurteilt. Trotzdem schafft die Autorin es, in ihrer Geschichte immer wieder positive Momente zu schildern. Lilo hat ein einnehmendes Wesen und scheint es immer wieder zu schaffen, nicht in einer völligen Hoffnungslosigkeit zu versinken. Ihre Gefühle sind für die Leser:innen nachvollziehbar.
Sie ist manchmal genervt von ihren Geschwistern, schwärmt für den Bruder ihrer Freundin und will von ihren Eltern als Erwachsene wahrgenommen werden. Umso tragischer wirken die Zeit und die Umstände, in denen sie heranwächst. Die Geschichten dieser drei Frauen und die Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, sind sehr unterschiedlich. Dennoch sind ihre Geschichten verbunden, nicht nur durch das Gebäude. Sie alle sind geprägt von dem Wunsch, tun zu können, was sie möchten. Doch dazu sind sie in der falschen Zeit am falschen Ort geboren. Bettina Wilpert gelingt es, die Leser:innen in den Bann der drei verschiedenen Geschichten zu ziehen.
Durch das Buch zieht sich ein Gefühl der Ohnmacht, da die Probleme und Ungerechtigkeiten, die den Protagonistinnen widerfahren von ihnen nicht kontrollierbar sind. Beim Lesen des Buches spürt man aufkommende Wut gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt und es wächst der Respekt vor Menschen, die es schaffen, sich gegen diese Ungerechtigkeiten zu wehren. Auch wenn man sich an der ein oder anderen Stelle einen tieferen Einblick in die Geschichten wünscht und es herausfordernd ist, sich nicht in den drei Handlungssträngen zu verlieren, lohnt es sich, dranzubleiben. Denn das Buch hinterlässt einen nachdenklich. Wie sehr bin ich beeinflusst von dem politischen System, in dem ich lebe? Ein kluges Buch, dass immer wieder bewusst macht, welchen Einfluss die Politik, unter der man heranwächst, auf den Prozess des Menschwerdens hat.